Viertes Buch: Das Sechste Saeculum

13. Kapitel: Alt-Benjamin

Die ursprüngliche Ausdehnung des Gelobten Landes

Es hat den Anschein, als habe nicht nur die Geschichte des Gelobten Landes, sondern auch dessen Geografie eine Überarbeitung in der Weise erfahren, dass sie mit den ethnischen und politischen Gegebenheiten des Judenstaates zur Zeit der Kanonisierung des AT in Einklang zu bringen war. Das verhältnismäßig kleine Gebiet um die Hauptstadt Jerusalem herum ist ohnehin nicht mit der Vorstellung eines Großreiches Israel unter David I in Einklang zu bringen, das mindestens bis an den Euphrat gereicht haben muss. So sind auch die Stammesgebiete in ihrer letzten, aktuellen Wiedergabe nur aus der politischen Situation der Zeit der Kanonisierung heraus zu sehen.

Die große Ausdehnung des David-Reiches geht einmal aus jener Mitteilung aus Mesopotamien hervor, wonach "die Benjaminiter Feuer ringsum (Mari) angezündet" hätten, welcher Vorgang eindeutig in die Zeit des Großreiches Israel unter David gehört. Schließlich war David I ein echter Benjaminiter, wie schon in vorangegangenen Kapiteln gezeigt worden ist: Sein Urgroßvater war Samuel-Benjamin selbst. Es ist daher angebracht, sowohl unter David als auch schon unter dem Benjaminiter Saul, dem Sohn des Samuel-Benjamin, von einem "Benjaminiter-Reich" zu sprechen.

Zum anderen geht die Ausdehnung des Benjaminiter-Reiches des David I aus dem Vers 2. Sam. 8,3 hervor, der aus der Zeit nach David I stammt und in dem von Hadadeser gesagt wird, er sei ausgezogen, "seine Macht wieder zu holen an dem Wasser Euphrat". Die Macht dieses kleinen Herrschers vom Aram-Zoba kann nur dann bis an den Euphrat gereicht haben, wenn er von seinem Vater Rechob das Nordreich Alt-Benjamin geerbt hatte, das dann an die Amoriter bzw. an die Babylonier verloren ging. In dem Augenblick, in dem dieses Gebiet unter die ägyptische Oberhoheit kam, also etwa im Jahre 639 ndFl, wurde Rechob oder schon sein Sohn Hadadeser in Gubla (= Byblos; in Hes. 27,9: Gebal), der Hauptstadt des Aram-Zoba, eingesetzt. Der Versuch des Hadadeser, das bis an den Euphrat reichende Gebiet wieder zurückzugewinnen, kann in der damaligen Situation bestenfalls als ein Versuch aufgefasst werden, das ehemalige David-Reich für die Ägypter zu retten, von denen er sich die Statthalterschaft über ganz Alt-Benjamin versprochen haben dürfte. Ein anderer David, nämlich David II, der in den Amarnabriefen den Namen Teuwatti trägt, und seine Verbündeten schoben dem jedoch einen Riegel vor, indem sie Hadadeser, der in denselben Briefen Rib-Addi heißt, noch vor Erreichen seines Zieles besiegten.

Es ist einleuchtend, dass das von dem Isakku (Statthalter) Jaggid-Lim für seinen "Herrn" Sargon eroberte Land, das ihm "und seinem Samen" später zu Lehen gegeben wurde, zumindest das spätere Phönizien einschloss. (Solche Lehensvergaben waren ein wesentliches Merkmal der Feudalstaaten bis ins europäische Mittelalter und noch darüber hinaus.)

Bekanntlich war der orientalische Name Phöniziens eine direkte Herleitung von einem der vielen anderen Namen des Isaak: Land Tachschi von Tachtim-Hodschi abgeleitet bzw. von Tochu-Etam, griechisch Tektamus. Auch in dem als "phönizisch" bezeichneten Keret-Gedicht (vgl. Debora-Lied!) handelt es sich um biblische Personen, wie in einem früheren Richterbuch-Kapitel schon gezeigt worden ist, so dass von einer Ausdehnung des ursprünglichen "Gelobten Landes" weiter nach Norden ausgegangen werden kann, möglicherweise schon damals bis an den Euphrat. Isaak hatte bei seinem Eroberungszug in Phönizien eine aus Mesopotamien stammende sabäische Volksgruppe angesiedelt, die mit den Philistern verwandt oder sogar identisch war. Zu diesem Volk gehörten neben seiner Gemahlin Rebekka auch deren Vater Lapidoth-Methuel sowie dessen Gemahlin Debora, die Amme oder Stiefmutter der Rebekka, worauf hier nicht mehr eingegangen werden muss.

Das Phönizische ist mit dem Hebräischen eng verwandt; es handelt sich bei beiden Sprachen um Abkömmlinge des Sabäischen, das auf das Frühkanaanitische zurückgeht, wie auch nicht anders zu erwarten ist. Über die Abstammung dieser Sabäer von den Frühkanaanitern wurde in früheren Kapiteln bereits abgehandelt. Äußerlich ist besonders auffällig, dass sowohl das Phönizische als auch das Hebräische - im Gegensatz zu den Silbenschriften der Nachbarvölker - eine aus Buchstaben bestehende Schrift besitzen, die so gut wie dieselben Namen tragen, wenn sie sich auch in ihrer Form deutlich voneinander unterscheiden. Aus dem phönizischen Alphabet hat sich später sogar das griechische entwickelt, dessen Buchstaben wiederum ähnliche Bezeichnungen tragen wie die hebräischen.

Das Gelobte Land muss demnach ursprünglich eine größere Ausdehnung gehabt haben als die "Stammesgebiete", die Phönizien, das "Land der Sidonier", zum Teil schon gar nicht mehr einschlossen. Die Stammesgebiete entstanden dem AT zufolge nach der Einwanderung der Hebräer aus Ägypten unter Moses bzw. nach der Landnahme unter Josua. Betrachten wir die wechselvolle Geschichte des Volkes, das in diesem Land letztendlich heimisch wurde, in der gewohnten Darstellung des AT, dann erscheint schon früh eine ganz entscheidende Zäsur:

Jakob zieht mit seinen Söhnen und dem ganzen Stamm Israel nach Ägypten. Dies geschieht schon in der zweiten Generation nach Abraham, dem dieses Land (und seinem Samen) verheißen (= gelobt) wurde. Bekräftigt wird diese Verheißung konventionell noch einmal unter seinem Sohn Isaak, der ja bekanntlich gar nicht sein Sohn, sondern sein Ururgroßvater war. Die Lehensvergabe an Isaak (= Isa-Schar, Stammesgebiet Issaschar?) ist historisch korrekt, die an Abraham muss anders gesehen werden. Die Bedeutung des Abraham war für die Juden unvergleichlich größer als die des eigentlichen Gründers des neuen Heimatstaates, der zudem noch gemeinsam mit seinem Schwiegervater Hiob-Methuel die Religion der Juden entwickelt hatte.

Nach dem Abzug der Familie Jakob-Israel - so wird gesagt - fiel das Land den Kanaanitern anheim, einem Volk, das sich für fast ein halbes Jahrtausend hier festzusetzen vermochte, obwohl im AT nur drei Generationen zwischen Jakob und seinem "Ururenkel" Mose liegen (2. Mose 6, 16-20):

+-----------------------------------------+
|   Jakob                 richtig:        |
|   |                                     |
|   Levi = Sebek-em-saf = Amram           |
|   |                     |               |
|   Kahath                |               |
|   |                     |               |
|   Amram oo seine        |               |
|   Muhme Jochebed        |               |
|   |                     |               |
|   Aaron und Mose(s)     Aaron-Moses     |
+-----------------------------------------+

Es ist für die Bibelexperten eine undankbare Aufgabe, den Widerspruch zwischen den Versen 1. Mose 15, 13 und 16 zu erklären. In Vers 13 heißt es, dass die späteren Nachfahren Abrahams in einem fremden Land (gemeint ist Ägypten) vierhundert Jahre lang zum Dienen gezwungen würden, Vers 16 dagegen spricht nur von "vier Mannesaltern", was mit dem vorstehenden Schema (linke Seite) unterstrichen wird.

Abgesehen davon, dass die Generationsfolge nach 2. Mose 6 historisch nicht haltbar ist - wie in den entsprechenden späteren Kapiteln noch zu zeigen sein wird -, ist es wenig glaubhaft, dass die Israeliten ihren Anspruch auf das ihnen von Gott gelobte Land so leichtfertig aufgegeben haben sollten, indem sie es mit Sack und Pack verließen; denn sie kamen ja keineswegs als Gefangene oder Vertriebene nach Ägypten, vielmehr war die Familie des Jakob - und nur von dieser ist die Rede - freiwillig dorthin gegangen. In Kanaan zurück blieben nur die "Kanaaniter".

Es soll hier völkerrechtlich gar nicht debattiert werden, wie ein Anspruch auf dieses Land nach vierhundert Jahren oder auch nur nach vier Generationen von einer einzigen Familie wieder geltend gemacht werden könnte.

Konventionell wird die Amarnazeit, das ist die Epoche, in der auch die Amarna-Korrespondenz zwischen Ägypten und Asien stattfand, in diese dunkle "Kanaaniterzeit" verlegt, was zumindest konsequent ist, wenn auch falsch; denn sowenig wie die Amarnazeit vor dem Exodus lag, sowenig hat es diese "Kanaaniterzeit" gegeben. Dadurch, dass man die mit Ägypten korrespondierenden Fürsten aus dieser Region für kanaanitische "Fremdlinge" hielt, die ihren Niederschlag nicht in der biblischen Geschichte gefunden haben sollen, entgingen der konventionellen Wissenschaft wichtige Informationen. Sobald wir in der Amarnazeit angekommen sind, wird dem Leser dies einleuchten.

Es handelt sich bei den angeblichen "Fürsten der Kanaaniter" um Personen, die uns aus dem AT zum Teil sehr gut bekannt sind. Es soll hier aber weder die Rückkehr aus Ägypten noch die Amarnazeit ins richtige Licht gerückt werden, die beide erst an eine spätere Stelle gehören, sondern es gilt herauszufinden, durch welche Vorgänge das Gelobte Land immer kleiner werden und dennoch seine Verheißungsrolle behalten konnte.

Nachdem - in konventioneller Sicht - das Großreich Davids die Ausdehnung des Gelobten Landes wieder voll erreicht hatte, verliert es seine Größe unter Jerobeam wieder, der das Reich spaltet in einen größeren Teil Israel und einen kleineren Teil Juda-Benjamin. Wenn Benjamin ursprünglich der Norden des Gelobten Landes gewesen wäre, dann könnte Juda der Süden gewesen sein. Bis in die Zeit der Kanonisierung waren Juda und Benjamin eng miteinander verbunden, wenn auch die Größe des späteren Stammesgebietes Benjamin auf ein klägliches Maß zusammengeschrumpft war und auch seine Lage fast ausschließlich auf dem Gebirge Ephraim alles andere als überzeugend ist. Alt-Benjamin muss weiter nach Norden gereicht haben.

Samuel-Benjamin und Sem-Juda waren Brüder. Sie waren die Amoriterkönige Sumu-la-il und Sumu-Abi aus der "Dynastie von Amurru". Folglich ist auch die Bezeichnung "Amurru" für diese Region, wie sie in den Amarnabriefen sehr häufig vorkommt, durchaus angebracht. Die Bezeichnung "Juda" für den Süden des Landes könnte von "Udja" abgeleitet worden sein, von dem ägyptischen udja-ru (etwa "heißes Land") für die spätere "Wüste Juda". Auf diese Weise wurde Sem zu Juda, obwohl er vermutlich zu Lebzeiten nie diesen zweiten Namen getragen hat. Und obwohl das Erstgeburtsrecht von Ruben auf die Kinder Josefs, also auf Manasse und Ephraim, das Fürstentum aber auf Juda übergegangen sein soll, lässt sich dessen Aufenthalt in dieser Region historisch nicht nachweisen. Daher liegt die Vermutung nahe, dass der Übergang des Erstgeburtsrechts von Jakob auf Benjamin-Manasse und der Übergang des Fürstentums (später) auf Sem-Juda gemeint sein soll.

Eine Person namens Ruben hat es meines Erachtens ohnehin nicht gegeben. Hinter diesem Namen verbirgt sich offenbar ein anderer, auf den ich weiter unten erst eingehen werde. Außerdem waren die Könige von Juda keine direkten männlichen Nachfahren des Sem-Juda, wie dies im AT suggeriert werden soll. Die wichtigsten direkten männlichen Nachfahren des Sem-Juda-Lutipri = Ischtup-Ilum waren die Perser! Wenn aber Ephrata, die Gemahlin des Kaleb, eine Tochter des Sem-Juda gewesen sein sollte, dann wäre David I über deren beider Sohn Hur doch noch ein Nachfahre des Sem-Juda gewesen.

Tatsächlich erfolgte die Verkleinerung des Großreiches des David I unter ganz anderen Umständen, auf die im nächsten Richterbuch-Kapitel eingegangen wird. Was letztlich davon blieb, waren ein Staatsgebilde Juda mit einem Klein-Benjamin im Süden und ein ehemals benjaminitisches Staatengefüge im Norden, das weitgehend mit dem im AT Reich Israel genannten und aus zehn Stammesgebieten bestehenden Staatsgebilde übereinstimmt. Das bedeutet nichts weniger, als dass die alte Ausdehnung des Gelobten Landes nie mehr erreicht worden ist. Wir werden aber auch in denjenigen Nordgebieten, die später nicht mehr zum Reich Israel gezählt wurden, noch Nachfahren Davids I und andere Benjaminiter vorfinden, die hier in ihren Städten und Ländereien herrschten, wenn auch unter fremder Vorherrschaft.

Weder das neue Reich Israel noch das Staatsgebilde Juda mit Neu-Benjamin noch die nördlichen Gebiete des alten Großreiches Israel waren nach dem Tode Adonias, des Sohnes und Nachfolgers Davids I, selbständig. Auf all diese politischen Gegebenheiten wird jedoch erst später einzugehen sein. Wir halten zunächst nur fest, dass es in der Zeit nach David I schon sehr bald kein Benjamin mehr im Norden gegeben haben kann, das bis an den Euphrat reichte. Was aber hauptsächlich blieb, war der Traum vom Gelobten Land, das bis an den Euphrat reichte. Erst recht durch die beiden babylonischen Exile, auf die ich ebenfalls in späteren Kapiteln erst zu sprechen komme, wurde der Wunsch nach diesem Großreich immer wieder von neuem geweckt. Schon unmittelbar nach dem ersten Exil kam es zu einem Versuch der Söhne Davids I und ihrer Verwandtschaft, das Großreich ihres "Vaters Kuzuna" - das ist David-Hezron-Koz - wieder bis an den Euphrat aufzurichten. Die Eroberungen Josuas, der in den Amarnabriefen Labaja heißt und der der Sohn Chileab des David I war, gehören in diese Zeit.

In konventioneller Sicht ist es das Bestreben des Josua, die aus Ägypten zurückkehrenden "Stämme" wieder in ihre Gebiete zu führen. Dies ist jedoch historisch nicht haltbar; denn wie schon an anderer Stelle gesagt wurde, handelt es sich bei den zwölf Stämmen Israels keineswegs um verwandtschaftlich verbundene Gruppen, die sich auf einen gemeinsamen Stammvater Jakob-Israel zurückführen lassen. Einige Bezeichnungen für "Stammesgebiete" sind viel älter als die Geschichte des Gelobten Landes. Es kann allerdings der Wunsch der aus Ägypten heimkehrenden Chabiru (= Fremdarbeiter) gewesen sein, in ihre jeweiligen Heimatregionen zurückzugehen, aus denen sie vierzig Jahre zuvor - Arbeit oder Land suchend - nach Ägypten ausgewandert waren.

Die Einteilung in Stämme in Form von Familienverbänden, die auf die "zwölf Söhne Jakob-Israels" zurückführen, ist eine spätere Vorgehensweise, die dazu diente, den Anspruch auf das Land aufrechtzuerhalten, das "der Herr" dem "Isaak und seinem Samen gelobt" hatte. Von diesem "Samen" war in späterer Zeit nicht mehr viel übrig, nachdem andere Völker in Israel-Juda "angepflanzt" und Eingeborene durch mehrere Exile und Deportationen "verpflanzt" worden waren. Am Ende war es mehr der gemeinsame Glaube an Jahwe, der die Juden zusammenhielt, und nicht ihre gemeinsame Abstammung von dem, an den die "Verheißung", das heißt die Lehensvergabe, ursprünglich gerichtet gewesen war. Als es nach der Landnahme Josuas zu der Stammesaufteilung des Gelobten Landes kam, waren dessen Grenzen schon stark reduziert worden.

Die Außengrenzen, wie sie unter Isaak und David verlaufen waren, bestanden nicht einmal mehr im Wunschdenken; aber eine Erfüllung selbst des bescheideneren Traumes hat es nie gegeben; denn schon bald danach führten die Assyrer einen großen Teil des Volkes ("die zehn Stämme Israels") fort und siedelten sie woanders an. Im Gegenzug wurden Teile anderer Völker im Gelobten Land angesiedelt.

Es ist bezeichnend, dass in der Amarnakorrespondenz, die in die Zeit nach dem ersten babylonischen Exil gehört, zwar die bekannten Personennamen aus den Büchern Samuel und Josua auftauchen, dass aber die geographischen Namen, die in dieser Korrespondenz ebenfalls sehr gut zu erkennen sind, keinerlei Hinweise auf die Stammesgebiete liefern. Das bestärkt natürlich die konventionelle Sicht, dass diese Epoche vor der Landnahme durch Josua gelegen habe. In Wirklichkeit lag die Landnahme des Josua I = Labaja jedoch mitten darin. Wenn trotzdem keine Namen von Stammesgebieten auftauchen, dann kann das nur daran liegen, dass die Einteilung des Landes in dieser Weise zu jener Zeit noch kein Thema war. Mithin sind die ursprüngliche Ausdehnung und die letztgültige Stammeseinteilung des Gelobten Landes zwei verschiedene Dinge.

Das ergibt sich aus dem AT selbst, wo vor der Auswanderung der Jakob-Familie Stammeseinteilungen natürlich noch keine Berechtigung haben. Vor dieser Auswanderung, die in ihrer konventionellen Form historisch nicht haltbar ist, gab es aber auch noch kein festgefügtes Staatsgebilde Israel, das - konventionell - erst lange nach dem Exodus durch Saul und David gegründet wurde. Wie wir gesehen haben, fand die Reichsgründung in Wirklichkeit schon fast hundert Jahre vor dem Exodus statt, also auch lange vor der Stammeseinteilung, die das Buch Josua vornimmt. Bei der Lektüre der Bücher Samuel im Hinblick auf das Leben, die Kämpfe und das Reich des David I fällt auf, dass der Aspekt einer Stammesaufteilung hierin sehr kurz kommt. Im Vergleich zu der späteren Einteilung ist die frühere Geographie geradezu ungewöhnlich; so wird die phönizische Stadt Beirut zum Beispiel zu Benjamin gerechnet (2. Sam. 4,2).

Aber auch in denjenigen Passagen in 1. und 2. Samuel, wo David II beschrieben wird, der zwar erst in der Amarnazeit lebte, dessen Leben und Wirken jedoch im AT mit dem ersten David verwoben wurde, lässt sich kaum eine präzise Stammeseinteilung erkennen. Das ist auch kein Wunder; denn diese wurde in Wirklichkeit erst nach dem zweiten babylonischen Exil eingeführt. Dadurch kommt es im AT immer wieder zu Mehrfach-Platzierungen von Städten, einmal in diesem, ein andermal in jenem und manchmal sogar in mehreren Stammesgebieten, obwohl immer dieselbe Stadt gemeint ist.

Der Begriff "Juda", ob nun als Stammesgebiet neben den elf anderen anzusehen oder als Gegenstück zu dem nördlicheren "Land Benjamin", wird auch schon vor der Zeit der Stammesaufteilung verwendet. Sowohl assyrische als auch zeitgenössische andere Inschriften (z.B. des Panamu von Samal) erwähnen "Juda". Da nun die Namen der Stammesgebiete weder in den ägyptischen noch in den assyrischen noch in den aramäischen Texten erscheinen, so ist davon auszugehen, dass die Verteilung der Stammesgebiete, wie sie schon in den frühen Büchern des AT beschrieben wird, eine spätere Einfügung ist, die zudem erst vorgenommen wurde, nachdem die zehn Stämme Israel bereits deportiert waren. Durch diese Deportationen, die ja tatsächlich in der einen oder anderen Form stattgefunden haben (und zwar hauptsächlich in der Assyrerzeit), wurde ein Teilproblem für die Neueinteilung gelöst: Es war kaum noch jemand da, der diese Aufteilung an historischen Gegebenheiten messen oder gar überprüfen konnte. Vielmehr waren eine Menge Neusiedler aus anderen Gebieten unter assyrischer Verwaltung nach hier verpflanzt worden, so dass sich ein Neuanfang durchführen lassen konnte. Hierauf wird an anderer Stelle ausführlicher eingegangen.

Das Großreich Israel-Benjamin Davids I zerfiel nach dessen Tod in mindestens zwei Teile, und zwar in das nördliche Amurru und das südliche Kanaan. Diese Unterscheidung kommt in den Amarnabriefen eher schemenhaft zum Ausdruck:

1. Der Teil nördlich der späteren Stammesgebiete, mithin Alt-Benjamin bis zum Euphrat, war hauptsächlich auch das Amurru der Amarnabriefe; hier lag, auf der Höhe von Sumur, die mutmaßliche Hauptstadt Kadesch am Orontes1 des ehemaligen David-Reiches. Hierzu gehörte auch der Nordteil von Phönizien, der im AT "Land der Sidonier" genannt wird, vom Misrephot-Majim an bis mindestens zur Küstenstadt Ugarit, mit den Gebieten Aram-Zoba einschl. der Region Hamath, dem Beth-Rechob, dem Geschur-be-Aram (= Abel-Beth-Maaka = Land Amka), dem eigentlichen Ruben (das Stammesgebiet Ruben wurde später auf das ostjordanische Moab "übertragen", weil das ursprüngliche Ruben nicht mehr in die neue Stammesverteilung hinein passte; mehr dazu findet der Leser im Kapitel Die Einwanderung der Chabiru im Gelobten Land im Band 3). Die Hauptstadt dieses (Süd-)Amurru, das dem Scha-Imerischu der assyrischen Inschriften entsprochen haben dürfte, war später jedoch nicht mehr Kadesch am Orontes, sondern Damaskus.

2. Die eigentlichen Stammesgebiete, die wiederum in einen Nordteil ("Reich Israel") und einen Südteil ("Reich Juda/Neu-Benjamin) zu unterteilen sind. Das Gebiet der Stämme Asser, Naphthali, Sebulon, Issaschar und Manasse setzte sich auf dem Ostufer des Jordan mit Basan-Gilead fort. In den Stammesgebieten Ephraim mit Neu-Benjamin und Juda-Simeon finden sich die meisten "Geisterstädte" wieder, die eigentlich in die Nordregion gehören. Diese Städte wurden mit den zugehörigen Begebenheiten oder Personen ebenfalls nach hier "übertragen", weil ihre Positionen im Norden verlorengegangen waren.

Mit diesen "Übertragungen" waren keine echten Deportationen verbunden, auch hat es - wenigstens generell - keine Neugründungen gegeben. Es wurden lediglich in denjenigen Büchern des AT, in denen von der Stammesverteilung die Rede ist, diese Orte bzw. Gebiete mit aufgezählt, obwohl ein Anspruch darauf in keiner Weise geltend zu machen war. Man wird dabei an die frühere Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland erinnert, die die "Wiedervereinigung" als politisches Ziel für jede westdeutsche Regierung verbindlich machen sollte. Wenn es auch lange keinen Weg dahin gab, so waren die Nachkriegs-Deutschen am Ende doch erfolgreicher als die Nachexil-Juden, denen eine Wiedervereinigung mit den verlorenen Gebieten im Norden nicht vergönnt war.

Die letzte und bescheidenste Grenzziehung um das Gelobte Land fand zur Zeit der Kanonisierung des Alten Testaments statt, das heißt also in der Zeit nach dem zweiten babylonischen Exil. Man trug damals den politischen Gegebenheiten weitestgehend Rechnung, indem man die außerhalb der realistischen Greifbarkeit liegenden Gebiete nicht einfach abschrieb, sondern sie in die aktuellen Grenzen "hineinfaltete"; das heißt, man schrieb zwar die geographischen Gebiete ab, nicht aber die Orts- und Stammesnamen. Indem man diese an neuen Stellen innerhalb der neugezogenen Grenzen unterbrachte, suggerierte man die Vollständigkeit des Gelobten Landes und seine Einteilung in Stammesgebiete nach dem Willen Gottes. Daher kann es vorkommen, dass hier und da Ortsnamen in dem verkleinerten Gelobten Land auftauchen, die man eigentlich außerhalb dieser Grenzen vermuten würde.


1 Eine eingehende Betrachtung zu dem Thema Residierte David I in Kadesch am Orontes findet der Leser im folgenden Kapitel 14.

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