Sechstes Buch: Das Olympische Zeitalter von 624 bis 642 ndFl

5. Kapitel:

Die Etrusker und die Könige von Rom
(2. Teil)


Der Frieden ist noch nicht gesichert. Die Fidenaten, die Bewohner der nördlich von Rom an der Via Salaria gelegenen (uretruskischen?) Stadt Fidenae, beginnen einen Präventivkrieg gegen Rom, dessen Macht ihnen zu bedrohlich wird. In einen Hinterhalt gelockt, den Romulus(-Aeneas) gelegt hat, werden die Fidenaten vor den Toren ihrer Stadt besiegt und die Fliehenden bis in die Stadt verfolgt. Wenig gelernt aus dieser Niederlage ihrer Nachbarn hatten die Veienter, die Bewohner der (ur-?)etruskischen Stadt Veii, die nordwestlich von Rom sehr gesichert auf einem Hochplateau lag. Deren Plünderer konnten zunächst mit großer Beute aus den römischen Marken entkommen, das veiische Heer aber wurde geschlagen und musste sich hinter die Mauern seiner Stadt zurückziehen.

Die Veienter bitten um Frieden, den ihnen Romulus bereitwillig diktiert: Abtretung eines Teiles ihres Landes an Rom und hundertjähriger Friede. Die Friedenszeit Roms dauerte nach diesem Krieg vierzig Jahre.

Livius (15, 8) beschreibt Romulus als einen beim Volk mehr als bei den Vätern (Patriziern) angesehenen und beliebten Mann, den besonders die Soldaten schätzten. Als ständige Leibwache, sowohl im Krieg als auch im Frieden, unterhielt er dreihundert Bewaffnete, die Schnelle Truppe (celeres), die vermutlich aus Reitern (equites, deutsch auch Ritter) des Heeres bestand. Zu seinem Ableben überliefert Livius eine phantastische Geschichte10:

(1) Als er diese unsterblichen Taten vollbracht hatte und gerade zur Musterung des Heeres eine Volksversammlung auf dem Felde beim Ziegensumpf abhielt, brach plötzlich mit großem Getöse und Donner ein Unwetter los und hüllte den König in eine so dichte Wolke ein, dass sein Anblick der Versammlung entzogen war; und danach befand sich Romulus nicht mehr auf Erden.

Der Kommentator merkt zu dieser Stelle an11: Aus dem griechischen Bereich übernommenes Schema der Apotheosis eines Heroen, das für spätere Zeiten noch gültig sein sollte. Es wird von Livius benutzt, um die Julier seiner Zeit zu glorifizieren. Romulus selbst zu verklären wagt Livius nicht, weil sich über das Ende des Gründers von Rom eine gegenläufige Tradition gebildet hatte, nach der der Brudermörder und Gewalttäter Romulus (nach Fabius Pictor?) anlässlich jener Musterung von seinen Feinden buchstäblich in Stücke gerissen worden sei. Die Situation wurde nach der Ermordung Caesars 44 v.Chr. aus propagandistischen Gründen mit dieser in Beziehung gesetzt.

Auch Livius (16, 4) war die andere Überlieferung bekannt. Wenn diese letztere Version zutreffen sollte, dann hätte die Schnelle Truppe entweder versagt, oder sie war mit den Verschwörern im Bunde. Jedenfalls können wir dem Kommentar entnehmen, dass die Angaben des Livius nicht unbedingt alle wörtlich zu nehmen sind. Die antiken Historiografen waren weder in der Lage, historische (Quellen-)Forschung im heutigen Sinne zu betreiben, noch waren sie frei von Tendenz, Gefallsucht und Furcht. Sie hatten nicht die Absicht, eine in jeder Beziehung unvoreingenommene, vorurteilsfreie und bis ins Detail objektive wissenschaftliche Arbeit abzuliefern, wofür ihnen ohnehin damals niemand gedankt hätte.

Bezeichnenderweise lässt Livius dann auch einen Mann auftreten, der sich als Verkünder eines ihm durch den vom Himmel herabgestiegenen Romulus übermittelten Götterbeschlusses ausgibt. Dieser Mann gehört ausgerechnet dem Geschlecht der Julier an: Proculus Iulius. Er ermahnt die Römer, die er als "Quiriten" anspricht, also als "Kinder des Mars", das Kriegswesen zu pflegen, damit Rom bald die Hauptstadt des Erdkreises werde. Eine herrliche Propaganda zur Zeit des iulischen Kaisers Augustus!

Uneinig, wer die Regierung in Rom übernehmen solle, obwohl dies im Vertrag mit den Sabinern geregelt zu sein scheint, wählen die 100 Väter einen anderen Weg. Ohne zu murren ist die sabinische Partei in Rom damit einverstanden, dass sie nicht den König zu stellen habe.

An dieser Stelle wird deutlich, dass die Sabiner nur dann die Quiriten gewesen sein können, wie an früherer Stelle von Livius gesagt wurde, wenn sie sich ebenfalls von Mars-Quirinus herleiten konnten, also wenn sie die Tyrsener oder Dorer aus Magna Graecia waren. In dem Falle, dass sie sich mit den Römern die Herrschaft teilen sollten, können sie eigentlich nur Tyrsener gewesen sein. Hat es die Sabiner als Urbevölkerung überhaupt gegeben, und wenn ja, dann in dieser Rolle? Mir scheint, dass hier vertuscht werden soll, dass die andere Partei die des Remus-Tyrsenos war, dessen Sohn jetzt in Rom auf den Thron kommen müsste, wie es der zwischen dem "Sabiner" Tatius(-Remus) und dem Römer Romulus(-Aeneas) geschlossene Vertrag vorsah.

Der Vorschlag der 100 Väter sah vor, dass Dekurien (Zehnerabteilungen) gebildet werden sollten, und für jede dieser Dekurien ein Abgeordneter zu wählen sei. Diese Gewählten sollten dann die Regierungsgewalt innehaben, jedoch nur einer von ihnen sollte die Abzeichen der höchsten Gewalt tragen und Liktoren haben. Das höchste Regiment war auf einen Zeitraum von fünf Tagen beschränkt und kam reihum an alle. Auf diese Weise sollte die Königsherrschaft auf ein Jahr ruhen. Diese Zeit wurde die Zwischenregierung (oder auch das Senatsjahr) genannt.

Das Volk war mit dieser Regelung nicht einverstanden. Man wollte einen König haben, der vom Volke gewählt war. Die Väter stimmten dem zu, behielten sich aber das Recht vor, den vom Volk gewählten König zu bestätigen. Zu bedenken gilt hier aber, dass Aeneas-Romulus einen Sohn hatte: den schon erwähnten Ascanius. Livius hingegen weiß nichts von einem Sohn des Romulus. Er spricht von einem Zwischenkönig (17, 10), von dem vorher keine Rede war und den er auch nicht mit Namen nennt. Außerdem müsste noch geklärt werden, in welchem Jahr Aeneas-Romulus starb und ob Ascanius zu diesem Zeitpunkt schon volljährig war.

Bei den Historikern gilt Tarquinius Priscus als erster "richtiger" König von Rom. Er soll im Jahre 607 (bis 569) v.Chr. auf den Thron gekommen sein, also 146 Jahre nach der "Gründung Roms" (753 v.Chr.) und im ersten Jahr des vierten Saeculums, jener Zeitrechnung, die die Etrusker bzw. Rasenna mit dem Jahr 907 v.Chr. begonnen haben sollen. Das vierte rechnerische Saeculum begann hiernach aber schon (879 minus 300 =) 579 v.Chr. entsprechend 301 ndFl.  Wenn mit den römischen Saecula gerechnet werden soll, dann kam der mit dem Lyder Tyrsenos identische König im ersten Jahr des ersten römischen Saeculi überhaupt erst in Italien an (643 ndFl).

Es fällt auf, dass die Tarquinier-Herrschaft bei den Historikern mit dem Jahr "ca. 625 v.Chr." schon beginnt, was unerklärbar sein dürfte, wenn sie gleichzeitig Tarquinius im Jahre 607 v.Chr. erst auf den Thron steigen lassen. Ich will versuchen, in dieses Chaos eine befriedigende Ordnung zu bringen.

Das 24. Jahr nach dem Beginn der Olympiaden-Rechnung war nicht das Jahr 753 v.Chr., sondern das Jahr (624 + 23 =) 647 ndFl entsprechend 233 v.Chr., mithin 520 Jahre nach der konventionellen, von Livius annähernd bestätigten Rom-Gründung. Wie ich weiter oben schon sagte, begann aber der AUCD-Kalender (= ab urbe condita, seit Gründung der Stadt) merkwürdigerweise schon 637 ndFl entsprechend dem Jahr 243 v.Chr. Die Differenz habe ich ebenfalls weiter oben schon zu erklären versucht. Deshalb schlage ich vor, die Angabe "im 4. Jahr der 6. Olympiade", das ist das 24. Olympiadenjahr, in dem Rom gegründet worden sein soll, auf den Beginn der Alleinherrschaft des Romulus in Rom zu beziehen, der in diesem Jahr mit seinem zehn Jahre zuvor geschaffenen Kalender fortfuhr. Die tatsächliche, gemeinsame Gründung Roms durch die Quiriten Remus-Tyrsenos-Turnus-Tatius und Aeneas-Romulus-Julius fand vermutlich schon nach dem Krieg der beiden mit ihren "etruskischen" Verbündeten im Jahre 643 ndFl = 237 v.Chr. (Beginn des 1. römischen Saeculi) oder kurz danach statt.

Der Beginn der Herrschaft des Tatius-Remus-Tyrsenos in Cures-Sabinia läge am Beginn seiner Herrschaft als König Tarquinius "Persicus" (= Priscus) im Jahre 643 ndFl entsprechend 237 v.Chr., konventionell im Jahre 607 v.Chr., am Beginn eines Saeculums. In diesem Falle wäre es das erste römische bzw. tyrsenische Saeculum, das (24 + 19 =) 43 Jahre nach dem letzten vollen Rasen-Saeculum und 19 Jahre nach dem 23jährigen Rumpf-Saeculum begann, welches die Rasen als ihr 7. Saeculum ansahen (601-624 ndFl).

Nach dem Eintreffen des Aeneas-Romulus, der zwar schon vor Tyrsenos-Remus in Italien angekommen war, obwohl er sich noch einige Zeit bei anderen Völkern aufgehalten haben soll, ergaben sich erst einmal die Kämpfe, die Livius als solche des Aeneas und des Romulus mit den Etruskern im Sinne von Ureinwohnern schildert. Dann erfolgte der Zusammenschluss beider Gruppen und - womöglich erst jetzt - die Gründung Roms. Es ist aber auch plausibel, die Gründung Roms dem Aeneas-Romulus allein zuzuschreiben und die Mitregentschaft des Sabiners Remus als vorübergehend anzusehen, bis er vertragswidrig aus Rom vertrieben wurde.

Nach dem Tode des Aeneas-Romulus hätte demnach Tarquinius das Recht gehabt, als "vormaliger" (lat.: priscus) König auf den Thron von Rom zu steigen - war er etwa der von Livius erwähnte "Zwischenkönig", dessen Namen er uns verschweigt? Hat es demnach die Senatsherrschaft nicht gegeben? Was hat es mit seiner langen Regierungszeit von sage und schreibe 38 Jahren auf sich (607-569 v.Chr.)?

Sowohl an der Senatsherrschaft als auch an der Zwischenregierung des Tarquinius möchte ich festhalten. Nur - diese beiden Institutionen gehören nicht an den Tod des Romulus angeschlossen, der in der Sage keinen Sohn gehabt zu haben scheint, sondern an den Tod des Ancus Marcius, des Sohnes Ascanius des Aeneas-Romulus und "Enkels des Mars". Meines Erachtens kann das sabinische Praenomen ancus ein altlateinisches Wort für Enkel sein; das lateinische Marcius bedeutet mit Sicherheit Martius, also von Mars abstammend (siehe weiter unten!).

Diesen Sohn des Romulus bezeichnet die Überlieferung als "Enkel des Numa" - statt als "Enkel des Mars". Numa (Pompilius) ist der in der Sage Numitor genannte Großvater des Romulus und der Sohn eines gewissen Proca, dessen Abstammung in der Reihe der Könige von Alba Longa offengelassen wird, in der sonst nur Nachfahren des "Patriziers" Aeneas vorkommen. Der Name Proca12 steht für unangenehme menschliche Eigenschaften wie z.B. frech oder unverschämt. Ob dies als Verballhornung des Beinamens Priscus für Tarquinius-Tyrsenos oder als Abwertung für die gesamte plebejische Linie gedacht war, ist wohl nicht mit letzter Sicherheit zu sagen; aber Numa Pompilius wird als Sabiner bezeichnet, was darauf hinweist, dass er kein Patrizier aus der Stadt der Aeneïden war, sondern ein Plebejer aus der Tyrsener-Stadt Cures, der Residenzstadt der Sabiner. Die Aeneïdenstadt war meines Erachtens auch gar nicht Alba Longa, sondern das alte Lavinium in Latium selbst, das meines Erachtens mit dem längst existierenden Rom(a) identisch ist. Rom wurde weder von Remus noch von Romulus gegründet. Es bestand schon in dorischer Zeit und vielleicht sogar schon davor.

Livius berichtet13 über die Wahl des neuen Königs:

(1) Rühmlich bekannt waren zu dieser Zeit Gerechtigkeit und frommer Sinn des Numa Pompilius. Er wohnte im sabinischen Cures, ein Mann von größten Kenntnissen - soweit einer das in diesem Zeitalter sein konnte - im ganzen göttlichen und menschlichen Recht (2). Als Förderer seiner Gelehrsamkeit geben sie, weil kein anderer zur Hand ist, den Samier Pythagoras aus: zu Unrecht; denn es steht fest, dass dieser erst zu der Zeit, als Servius Tullius in Rom König war - also mehr als hundert Jahre später -, an der südlichen Küste Italiens, in der Gegend von Metapontium, Heraclea und Croton, Ansammlungen von jungen Leuten um sich hatte, die eifrig ihren Studien nachgingen. (3) Wie wäre - selbst wenn Pythagoras zur gleichen Zeit gelebt hätte - aus jenen Gegenden Kunde von ihm zu den Sabinern gekommen?

Offenbar macht Livius hier denselben Fehler, dem wir heute auch immer noch leicht verfallen: Die Altvorderen als eine Versammlung von Dummköpfen anzusehen.

Der Philosoph, Mathematiker und Astronom Pythagoras, dessen Lehrsatz a² + b² = c² ("Die Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten ist gleich dem Flächeninhalt des Quadrates über der Hypothenuse") weltberühmt ist, lebte (konventionell) im 6. Jahrhundert v.Chr.; geboren wurde er in Samos, ging aber später nach Magna Graecia und gründete in Kroton (= Croton, Unteritalien) eine reformerische Lebensgemeinschaft mit sittlich-religiöser Grundeinstellung zum Zwecke philosophischer Erkenntnis14. Die Pythagoräer wurden später aus Kroton vertrieben. Im Jahre 496 v.Chr. (konventionell) starb Pythagoras in Metapontion (= Metapontum) in Unteritalien. Sein Geburtsjahr wird mit ca. 582 v.Chr. angegeben. In der berichtigten Chronologie entsprechen diese Jahreszahlen - wie ich in späteren Kapiteln deutlich machen werde - genau der Zeit, in der Numa Pompilius (* 647 ndFl) aufwuchs.

Es ist demnach gar nicht so unglaubwürdig, wenn ein Sohn des "Sabiners" Tarquinius von Pythagoras erzogen wurde; denn falsch ist nicht diese Angabe, sondern die überlieferte Reihenfolge der römischen Könige und vor allem deren konventionelle Datierung, die mit derjenigen bei Livius auffallend übereinstimmt. Dies ist keine Überraschung - wurde die konventionelle doch von Livius übernommen. Wir vertagen daher die Thronbesteigung des Numa Pompilius auf einen späteren Zeitpunkt, überspringen vorläufig einige Kapitel bei Livius und wenden uns zunächst dem wirklichen Nachfolger des Aeneas-Romulus zu, seinem Sohn Askanios = Ancus Marcius:

(32, 1) Nach des Tullus Tod (gemeint ist natürlich der Tod des Aeneas-Romulus) war die Regierungsgewalt, wie es schon von Anfang an Brauch gewesen, an die Väter zurückgefallen, und diese hatten einen Zwischenkönig benannt. Dieser hielt die Volksversammlung ab, und das Volk wählte Ancus Marcius (Der Übersetzer schreibt Martius, obwohl im lateinischen Originaltext Marcius steht. Außerdem gibt er in seinem Kommentar an, dass das Praenomen Ancus sabinisch, mithin altlateinisch ist, das Gentilnomen Marcius oder Martius dagegen lateinisch.) zum König; die Väter bestätigen die Wahl. Ancus Marcius war ein Enkel des Numa Pompilius von dessen Tochter. Letzteres stimmt nicht. Er war der Sohn (* 623 ndFl) des Aeneas mit der Trojanerin Kreusa.

Die Aufgabe der Väter bestand offenbar darin, ähnlich wie die ägyptischen Priester über die Einhaltung der Thronfolgeregeln zu wachen. Diese wurden bei der Thronfolge des Sohnes von Aeneas-Romulus offensichtlich nicht beachtet, da der Streit zwischen Romulus und Remus als Beendigung jener Vereinbarung angesehen wurde, nach der ein Römer und ein Sabiner abwechselnd König werden sollte. Wir werden sehen, dass diese Regel bald wieder eingeführt wird. Ich halte die Anwendung besagter Regel vor dem Regierungsantritt des Numa Pompilius für korrekt wiedergegeben, beim Regierungsantritt des Ancus Marcius gibt dieses Verfahren jedoch keinerlei Sinn.

Dass Ancus Marcius von Numa Pompilius, einem Sabäer, als Sohn von dessen Tochter abstammen soll, halte ich für eine Geschichtsentstellung, die schon in der sagenhaften Vorgeschichte vorbereitet wird: Numitor, ein "später Nachfahre" des Askanios, hat eine Tochter namens Rhea Silva, die von Mars geschwängert wird und die Zwillinge Romulus und Remus zur Welt bringt: die Enkel des Numitor, der für den Sabiner Numa Pompilius steht. Auf diese Weise wurden beide Gründer Roms zu Nachfahren des Patriziers Aeneas, während die Nachfahren des Plebejers Tyrsenos zu Sabinern neutralisiert wurden.

Ancus Marcius wandte sich dem Kriegsrecht zu und übertrug den Bundpriestern die Rechtsordnung der Kriegserklärung nach einem Ritus, den er von dem alten Stamm der Aequicoler übernommen hatte. Hauptsächlich richteten sich diese kriegsvorbereitenden Maßnahmen gegen die Altlatiner, also die unmittelbaren Nachbarn der Römer. Hierin sehe ich eher eine Befolgung der Weisungen des kriegerisch-martialischen (= quirinalis) Romulus, als dass diese unter dem friedliebenden König Numa Pompilius befolgt worden wären, der aus diesem Grunde schon nicht als unmittelbarer Nachfolger des "martialischen" Romulus Martius in Frage kommt. So rückte Ancus Marcius oder Martius denn auch bald mit einem neu ausgehobenen Heer aus und nahm den Latinern ihre Stadt Politorum ab. Ihre Einwohner siedelte er kurzerhand um nach Rom auf den Hügel Aventin, und nach der Einnahme von Tellenae und Ficana verfuhr er mit deren Einwohnerschaft genauso.

Gegen Medullia und Murciae führte er ebenfalls erfolgreich Krieg, so dass er bald neue Hügel Roms bevölkern und diese sogar untereinander verbinden konnte. So entstanden die ersten Stadtbefestigungen. Schließlich dehnte er die Marken Roms bis hinunter ans Meer aus und gründete den Hafen Ostia und legte Salinen (Salzgewinnungsanlagen) an.

Wir erinnern uns an einen früheren Abschnitt15: Ascanius-Askanios ... gründete eine Stadt am Fuß des Albanergebirges, die man ... Alba Longa nannte. Zwischen der Gründung von Lavinium und der Pflanzstadt Alba Longa lagen etwa 30 Jahre.

Wenn diese Gründung erst durch Askanios = Ancus Marcius erfolgte, dann fallen die Nachfahren des Askanios und Vorfahren der Zwillinge Romulus und Remus in ein doppeltes tiefes Loch: zeitlich in das "dunkle Zeitalter Griechenlands, Roms und Kleinasiens" und räumlich an eine Stelle, an der überhaupt noch keine Stadt steht. Wenn aber Alba Longa dreißig Jahre nach Lavinium gegründet wurde, also auch dreißig Jahre nach der Ankunft des Aeneas in Latium, dann dürfte seine Gründung um etwa 670 bis 674 ndFl anzusetzen sein. Das hängt davon ab, wann Aeneas nach seinen Irrfahrten in Italien eintraf. Wie ich schon sagte, ist die größere Wahrscheinlichkeit die, dass Tyrsenos-Turnus-Tatius bereits hier anwesend war, als Aeneas auftauchte, mit dem er dann im Jahre 643 ndFl gemeinsam in die Stadt Rom einzog. So möchte ich das Jahr 673 ndFl als das Jahr der Gründung Alba Longas ansehen.

Die Regierungszeit des Aeneas-Romulus war meines Erachtens nicht sehr lang. Die des Ascanius = Ancus Marcius begann schon um das Jahr 652 ndFl und endete demnach erst nach dem Jahre 673 ndFl, in dem er Alba Longa gegründet hätte. Er wurde 623 ndFl schon geboren, und zwar nicht etwa von Lavinia, die Aeneas erst im Jahre 643 ndFl geheiratet hatte, sondern noch von Kreusa, der ersten Frau des Aeneas. Er war bei seinem Regierungsantritt etwa 30 Jahre alt, bei der Gründung Alba Longas sogar schon über 50. Es wäre zu erwarten, dass er Söhne hatte, die mittlerweile volljährig waren. Dies aber scheint nicht der Fall gewesen zu sein:

(35, 1) Ancus regierte 24 Jahre ... Seine Söhne standen schon kurz vor Erreichung des Mannesalters.

Die Regierungszeit des Ancus Marcius währte hiernach 24 Jahre. Demnach wäre er möglicherweise im Jahr des scheinbaren Sonnenstillstandes, also 676 ndFl und somit nach dem Jahr 673 ndFl (seine Gründung Alba Longas), etwa 53jährig gestorben:

Unter der Regierung des Ancus Marcius, so schreibt Livius in Kapitel 34, sei ein gewisser Lucumo nach Rom gekommen, der sich für uns schrittweise als Lucius Tarquinius Persicus-Priscus enttarnt, wenngleich Livius eine abenteuerliche Herkunft dieses Mannes erfindet. Wahr daran ist lediglich, dass er zuletzt aus der etruskischen Stadt Tarquinii kam, die ich für das "Ersatzrom" des Remus-Tyrsenos halte, eine Stadtgründung nach seinem Auszug aus Rom. Möglicherweise hat Livius diesen Lucumo nach einem Vorbild beschrieben, das ihm eine andere Person geliefert hat, möglicherweise hat er auch unbewusst etwas verwechselt. Nur nimmt man ihm nicht ab, dass er von der Existenz des Tyrsenos nichts gewusst haben will, der keineswegs schon mehrere Tode gestorben ist, wie Livius uns weismachen will: als Proca, als Turnus, als T. Tatius und schließlich auch als Remus - und nun taucht er als Lucumo wieder auf:

Dieser Lucumo, so sagt Livius, sei der Sohn des Korinthers Demaratus gewesen, der in seiner Heimat Ärger gehabt hätte und deshalb geflohen und zufällig nach Tarquinii gekommen sei. Dort habe er geheiratet und zwei Söhne bekommen, den besagten Lucumo und dessen Bruder Arruns, der noch vor dem Vater gestorben sei, so dass Lucumo das ganze Vermögen des Vaters nach dessen Tod geerbt habe. Seine Schwägerin, die von dem offenbar erst kurz vor dem Vater verstorbenen Bruder Arruns schwanger war, hatte der Vater vor seinem Tod nicht bedacht, und so bekam der kurz danach geborene Enkel wegen seiner Armut den Namen Egerius (lat. egens = bedürftig, sehr arm).

Der Tod des Arruns und die Geburt seines Sohnes gehören in das Jahr 653 ndFl, und Lucumo heiratete die aus sehr angesehenem Hause stammende Schwägerin Tanaquil schon bald danach. Es sei hier schon gesagt, dass diese Frau bereits eine Tochter von Arruns hatte, die um etwa 650 ndFl geborene Egeria, die später die Gemahlin des Numa Pompilius wurde, eines um 643 ndFl geborenen Sohnes des Tarquinius. Sie galt den Römern später als Quellnymphe Egeria. Wir werden uns bei späterer Gelegenheit an diese Geschichte erinnern!

Tanaquil konnte "die Verachtung ihres Gemahls als der Sohn eines eingewanderten Verbannten" nicht ertragen, und so beschlossen die Eheleute, nach Rom zu ziehen, wo sie keine Voreingenommenheit der Bewohner zu fürchten hatten. Livius knüpft daran die Geschichte von dem Adler an, der dem neben seiner Frau im Wagen sitzenden Lucumo - das Paar war gerade beim Hügel Ianiculus angekommen - die Filzkappe vom Kopf reißt und sie ihm nach einigem Kreisen geschickt wieder aufsetzt.

Diese spezielle "Vogelschau" legt Livius dahingehend aus, dass die Götter mit Lucumo Großes vor gehabt hätten; aber leicht ist hierin das Gleichnis vom zurückkehrenden und abermals auf den Thron kommenden ehemaligen (lat. priscus) König Remus-Proca-Turnus-Tatius-Tyrsenos Persicus erkennbar, der sich in Rom - wie Livius sagt - Lucius Tarquinius Priscus nennt. Dass es sich bei Priscus um einen Ehemaligen handelte, durfte oder wollte Livius nicht schreiben. Deshalb erfand er eine Abstammung für Lucumo = Lucius Tarquinius, die weit von den Tatsachen wegführt. Aber Livius kommt nicht so ganz um die Wirklichkeit herum:

(34, 12) Diese Bekanntheit beim König hatte er binnen kurzem durch Freigiebigkeit und durch Gewandtheit im Leisten von Gefälligkeiten zu den Rechten vertrauter Freundschaft gesteigert, so dass er an den öffentlichen wie auch an internen Beratungen in Krieg und Frieden teilnahm und, als in allen Dingen erprobt, zuletzt im Testament des Königs (Eig.Anm.: gemeint ist Ancus Marcius = Ascanius) zum Vormund für dessen Kinder eingesetzt wurde.

Dieser letzte Satz ist der eigentliche Grund für die Rückkehr des "Ehemaligen", der sich in Rom keine Freunde durch Großzügigkeit und Gefälligkeiten aller Art erkaufen musste. Ancus Marcius kehrte zu dem vertragenen Recht, zu der zwischen seinem Vater und Remus-Tyrsenos-Tarquinius ausgehandelten alternierenden Thronfolge zurück. Seine Söhne waren vermutlich längst volljährig; aber die Thronfolge sollte zunächst wieder an die "Sabiner" fallen, das heißt an die echten Lydo-Etrusker, an ihren Anführer Tyrsenos. Dies war das Verdienst des Ascanius = Ancus Marcius. Die List, die Livius dem Priscus unterstellt, ist daher völlig überflüssig:

(35, 2) Als sie (die von Lucumo-Tarquinius nach dem Tod des Ancus Marcius angeregte Volksversammlung) einberufen war, sandte er die Jünglinge zur fraglichen Zeit auf die Jagd. Und man sagt, er habe sich als erster förmlich um die Königswürde beworben und eine Rede gehalten, die darauf angelegt war, die Herzen des niederen Volkes zu gewinnen. ...(6) Solches brachte er vor, und das römische Volk bestellte ihn mit großer Einstimmigkeit zum König...Ebenso um seine Königsmacht zu festigen wie bestrebt, das Gemeinwesen zu fördern, wählt er hundert Männer zu Vätern, die in der Folge Väter von minderer Abkunft genannt wurden...

Wenn es eine Thronfolgeregelung gegeben hätte, die selbst minderjährige Königssöhne als Thronfolger vorsah, dann wäre jede Rhetorik des Tarquinius vergeblich gewesen; aber Ancus Marcius hatte Priscus überhaupt nicht zum Vormund seiner längst volljährigen Söhne bestimmt, sondern zu seinem Nachfolger, um damit die alte Regelung endlich in die Tat umzusetzen. Demnach bedurfte es weder einer Volksversammlung noch einer List des Tarquinius, um die Söhne des Ancus Marcius zunächst von der Thronfolge auszuschließen. Im Todesjahr des Ancus Marcius stieg Tarquinius Priscus also auf den römischen Königsthron, obwohl die Söhne seines Vorgängers bereits volljährig waren, unter anderen Tullus Hostilius, geboren um 650 ndFl von der Tochter des römischen Anführers Hostius Hostilius, der gegen die Sabiner gefallen war.

Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass die von dem Plebejer Tarquinius einberufenen hundert Väter als solche "von minderer Abkunft" bezeichnet werden. Livius lässt mit dieser Formulierung ganz klar erkennen, dass die Patrizier die Linie des Etruskers Tarquinius nicht für gleichwertig, sondern eben "von minderer Abkunft" ansahen.

Seinen ersten Krieg führte Tarquinius mit den Latinern, die bei Livius von den Etruskern unterschieden werden. Das ist auch korrekt; denn die Latiner waren die Nachfahren des Latinus-Aeneas, die mit der Thronbesteigung des Etruskers Lucumo-Tarquinius nicht einverstanden waren. Dass es neben den Anhängern des Latinus-Aeneas (der aus Kleinasien die lateinische Sprache mitgebracht hatte!) auch eine zu den Ureinwohnern gehörende Völkerschaft mit Namen Latiner gegeben haben könnte, ist weder auszuschließen noch steht diese Möglichkeit im Widerspruch zu der anderen Erklärung, da die Anhänger des Aeneas ebenso wie die des Tyrsenos in den Gebieten wohnten, die den Rasen ursprünglich allein gehört hatten.

Dass der Korinther Demaratos (bekannter ist sein spartanischer Namensvetter) hier ins Spiel gebracht wird, kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Latiner auch zu den Dorern (Magna Graecia) gehört haben können, wenn sie nicht sogar zu den noch älteren indoarischen Ital(ik)ern gehörten, die hier gesiedelt haben. Die Sprache der Rasen dagegen war auf keinen Fall indoarisch.

Die Prisci Latini - so die ethnische Bezeichnung für die Bewohner der Gebiete zwischen Anio und Tiber - können zu den Dorern gehört haben. Ich halte die modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse hierzu nicht für gesichert, da sie auf einer falschen Chronologie beruhen. Wenn aber die ankommenden Dorer damals Geraci genannt wurden, was eindeutig indoarisch ist, dann muss diese Sprachgruppe schon in Italien vertreten gewesen sein. Ich neige aus sprachlichen Gründen eher zu der Annahme, dass die Prisci Latini zu den indoarischen Italikern gehörten.

Tarquinius nahm die Latiner-Stadt Apiolae, westlich des Albanergebirges gelegen, und richtete mit der ansehnlichen Kriegsbeute besser ausgestattete Spiele aus als seine Vorgänger. Noch bevor er die Steinmauer um die ganze Stadt Rom errichten konnte, kam es zu einem Krieg mit den Sabinern. Nach wechselvollen Kämpfen wurden die Sabiner jedoch besiegt und mussten an die Römer die Stadt und das Gebiet um Collatia abtreten, wo des Tarquinius Neffe, jener schon erwähnte Egerius, als Besatzungskommandant zurückgelassen wurde. Dann ging Tarquinius daran, Altlatium zu bekriegen und sammelte die Städte der Reihe nach ein: Corniculum, Ficolae vetus, Cameria, Crustumerium, Ameriola, Medullia, Nomentum. Hierauf schloss Rom mit den Latinern Frieden.

Die Abstammung des Neffen Egerius von Demaratus ist ernst zu nehmen, nicht jedoch die Trennung dieser ganzen Familie von Tyrsenos = Tarquinius Priscus. Wenn dieser den jungen Mann in der Stadt Collatia einsetzt, dann setzt er ihn vermutlich in der Stadt seines Vaters ein, des Arruns; denn dieser muss, wenn er ein Bruder des Lucumo-Lucius-Tarquinius war, mit diesem (oder mit Aeneas?) gemeinsam aus Kleinasien nach Italien gekommen und schließlich in der sabinischen Stadt Corniculum (= Collatia?) eingezogen sein. Weiter oben hatte ich diesen Arruns mit dem Gefährten des Aeneas verbunden, mit dessen möglichem Schwager Antenor, der aber zunächst in Venetien gesiedelt hatte.

Nach dem Tode des Arruns begehrten die Sabiner offenbar gegen Tarquinius auf, wurden von ihm besiegt und erhielten den soeben geborenen Egerius als Statthalter über sich. - Gibt das Sinn? Doch wohl kaum! Hier fehlt ein ganz erhebliches Stückchen Zeit, nämlich die vom Tode des Arruns aus Corniculum bis zur Einsetzung seines volljährigen Sohnes Egerius in Collatia.

Diese ganze Kriegsgeschichte sehe ich nicht in der Zeit nach dem Tode des Ancus Marcius. Vielmehr neige ich zu der Ansicht, dass die Latinerkriege an den Anfang der Unternehmungen sowohl des Remus-Tyrsenos-Tarquinius als auch des Romulus-Aeneas gehören. Immerhin war Tarquinius selbst ein "Sabiner", wenn er nicht sogar im weitesten Sinne auch als ein Latiner - zumindest aber als ein Etrusker aus der Stadt Tarquinii - anzusprechen wäre. Nach den Siegen über die einheimischen Sabiner zog Arruns in Corniculum oder in Collatia ein, deren Identität ich für sehr wahrscheinlich halte. Egerius kam als erwachsener Sohn des Collatinus (= Arruns) im Jahre 676 ndFl in der Stadt seines Vaters auf den Statthalterthron, nachdem sein Onkel Tarquinius König von Rom geworden war. Daher halte ich die Friedenswerke des Tarquinius, mit denen er Livius zufolge sogleich nach den Kriegen begann, für seine eigentlichen Taten als neuer König.

Er begann mit dem Bau der Stadtmauer und legte die Täler zwischen den Hügeln trocken. Damals wurde auch der Platz für die große Rennbahn abgesteckt. Die dort abgehaltenen Spiele fanden jährlich statt und wurden abwechselnd die Römischen und die Großen genannt. Ganz allgemein erfuhr die römische "City" unter Tarquinius eine ansehnliche Erweiterung. Die von Livius erwähnte Einrichtung von Hallen und Buden rund um den Marktplatz wird von dem Kommentator Robert Feger als "anachronistische Darstellung" bezeichnet, ohne dass er hierfür eine Begründung gibt.

Falls damit gemeint sein soll, dass die Hallen und Buden schon von früheren Königen errichtet worden seien, so bestätigt das meine Ansicht, dass Tarquinius auch schon der frühere König war und seine Taten vor und nach der Herrschaft des Aeneas-Romulus und dessen Sohnes Ascanius = Ancus Marcius alle in die Zeit nach dem letzteren verlegt wurden.

Tarquinius Priscus soll Livius (40, 1) zufolge 38 Jahre regiert haben, das hieße - seine Zeit als "Vormaliger" natürlich eingeschlossen - von 643 bis 681 ndFl, also nach seinem Vorgänger Ancus Marcius noch etwa fünf Jahre, die für die beschriebenen Taten auch völlig ausreichen. Nicht ausreichen würden diese fünf Jahre für das Heranwachsen des Nachfolgers des Tarquinius, der nach dieser Darstellung keine Söhne gehabt hätte, was jedoch keinesfalls den Tatsachen entspricht. Daher muss hier wieder einmal etwas richtigestellt werden:

Der Fürst Servius Tullius aus Corniculum sei, wie Livius (39, 5) als Alternative zu anderen Überlieferungen sagt, in dem Krieg des Tarquinius gegen die Latiner getötet worden. Seine schwangere Frau habe das Mitleid der Königin Tanaquil erweckt, die die Frau an den Hof geholt und dafür gesorgt habe, dass die Mutter und ihr Sohn vom Sklavenlos verschont blieben. Dieser Sohn, der gleichfalls den Namen Servius Tullius gehabt habe, sei nicht nur am Hof aufgezogen, sondern auch noch mit der Tochter des Tarquinius vermählt und zum Thronnachfolger des Tarquinius bestimmt worden, obwohl die Söhne des Ancus Marcius ihren Anspruch auf den Thron geltend gemacht hätten.

Wenn wir die Eroberung von Corniculum in die tarquinische Zeit des Tyrsenos-Tarquinius verlegen, also in die Jahre 647 bis 676 ndFl, dann reicht es, wenn Servius Tullius im Jahre 653 ndFl geboren wurde, und zwar nicht unbedingt als Sohn eines gleichnamigen Latinerfürsten - was ich für unwahrscheinlich halte -, sondern als ein Sohn des Arruns mit Tanaquil selbst und nicht von Lucumo-Tarquinius, der Tanaquil erst nach der Geburt dieses Sohnes heiratete. Nur so ist es zu verstehen, dass sich Tanaquil nach dem Tode ihres Gatten bzw. nach der Vertreibung oder dem Tod des Numa so dafür einsetzte, dass ihr Protegé Servius Tullius, nämlich ihr eigener Sohn Egerius, König von Rom wurde. Der Sohn Numa Pompilius des Tarquinius wurde schon wesentlich früher (um 643 ndFl), und zwar möglicherweise von einer Tochter des Aeneas-Romulus, geboren, deren Name nicht überliefert ist, in der ich aber Lavinia sehe, die Tochter des Latinus-Aeneas.

Hierher gehört jetzt die oben schon angefangene Geschichte von den angeblichen Söhnen des Flüchtlings aus Korinth, von dem ich behaupte, dass er sich in Tarquinii niederließ und seine Tochter Tanaquil mit einem latinischen Herrscher vermählte, den Livius bei dieser Gelegenheit zum Sohn des Demaratus macht und ihn Arruns nennt. Der war aber sowenig wie Lucumo = Lucius Tarquinius dessen Sohn. Was die beiden Brüder außer ihren Blutsbanden miteinander verband, waren ihre Ehen mit Tanaquil. Sie waren nicht die Söhne, sondern die Schwiegersöhne dieses "angesehenen Mannes von Tarquinii", dessen Namen wir jetzt kennen - falls Livius wenigstens damit recht hat: er hieß Demaratus und war der Urgroßvater des bekannteren Spartaners gleichen Namens.

Der Name Servius hat die Phantasie in Richtung auf Gefangenschaft und Sklaverei gelenkt: lat. servus = Sklave. Mit dieser ganzen Geschichte, von der Livius offenbar mehrere Versionen bekannt waren, sollte meines Erachtens lediglich von der illegitimen Geburt des Servius Tullius abgelenkt werden, der ja väterlicherseits nur aus der Nebenlinie des Arruns, des Bruders des Tyrsenos, abstammte.

Proca, so hatte ich oben schon gesagt, war Priscus. Folglich müssten Numitor und Amulius, die Söhne des Proca, auch Söhne des Tarquinius Priscus gewesen sein. Wie ich gleichfalls weiter oben schon andeutete, handelt es sich bei dem einen Sohn um den "sabinischen" König Numa Pompilius und bei dem anderen um den Stief- und Schwiegersohn Servius Tullius des Tarquinius, der mithin ebenfalls als Tarquinier aufgefasst werden kann.

Die nicht überzeugende Namensgleichheit von Vater und Sohn Servius Tullius klärt sich jetzt als Irrtum auf: Der Vater hieß Arruns, und seine schwangere Frau war selbstverständlich Tanaquil, die den Sohn Egerius kurz darauf zur Welt brachte, der später den Namen Servius Tullius erhielt und von Tarquinius, der Tanaquil geheiratet hatte, adoptiert wurde. Diese Frau brachte - wie weiter oben schon gesagt wurde - auch noch eine Tochter mit in diese Ehe, die den Namen Egeria hatte und später mit Numa Pompilius, dem Sohn des Tarquinius, verheiratet wurde.

Für Numa Pompilius war die Zeit für die Thronbesteigung noch nicht gekommen, da ein Sohn des Ancus Marcius erst einmal an der Reihe war, auf den Thron zu steigen. Dazu schreibt Livius:

(40, 2) Zwar hatten es die zwei Söhne des Ancus bislang schon für höchst ehrenrührig gehalten, dass sie durch den Betrug ihres Vormundes aus dem ererbten Herrschaftsanspruch verdrängt worden waren; dass in Rom ein Hergelaufener, ein nicht nur nicht aus der Nachbarschaft, sondern nicht einmal aus Italien Stammender herrschte; doch steigerte sich ihre Entrüstung jetzt, da das Regiment nicht einmal von Tarquinius auf sie zurückkommen, (3) sondern jählings und unversehens Sklavenvolk zufallen sollte, so dass im gleichen Staat, hundert Jahre, nachdem Romulus, ein Göttersohn und selbst ein Gott, die Herrschaft in Händen gehabt, solange er auf Erden weilte, sie nun ein Sklave, von einer Sklavin geboren, in Händen haben solle.

Typisch für den mit den Juliern verbundenen Livius ist das Herausstreichen der niederen Abkunft des "hergelaufenen" Königs Tarquinius wie dessen Stief- und Schwiegersohnes Servius Tullius, wohingegen die göttliche Herkunft der Söhne des Ancus über alle Maßen betont wird:

Und genau das ist auch der Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung, dass Ancus Marcius eben nicht "ein Sabiner und Enkel des Numa Pompilius" war,

wie Livius an anderer Stelle sagt. Die Söhne des Ancus Marcius waren die Enkel des Aeneas-Julius-Jupiter-Romulus. Wie ich weiter oben schon sagte, leitet sich das Gentilnomen Iulius von Ilius ab und bedeutet "der von Ilion bzw. von Troja". Als Jupiter Indiges ("einheimischer Jupiter") wurde Aeneas schon seit seiner Grablegung verehrt.

Die Söhne des Ancus Marcius beschließen, Tarquinius wegen seiner "unrechtmäßigen" Thronbesteigung und wegen der dem "Sklaven" Servius Tullius gewährten Protektion umbringen zu lassen. Sie wählen aus den Hirten zwei besonders tollkühne aus und lassen durch sie im Vorhof des Königshauses einen Streit mit viel Lärm provozieren, so dass der König sie vor sich bringen lässt. Während nun der eine dem König den Sachverhalt vorträgt, erschlägt der andere den König mit dem Beil.

Wenn Tarquinius wirklich 38 Jahre lang nach Ancus Marcius regiert hätte, dann wären dessen Söhne mittlerweile auch nicht mehr die jüngsten gewesen. Es ist in höchstem Maße unwahrscheinlich, dass sie nicht schon in der Zwischenzeit auf die Beseitigung des "Hergelaufenen" gesonnen und auch Wege gefunden hätten, an die Macht zu kommen, die ohnehin nur einem von ihnen und nicht beiden zugestanden hätte. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass dieser Königsmord schon wenige Jahre nach der - an sich legitimen - Thronbesteigung des Tarquinius stattfand, nämlich die oben schon erwähnten fünf Jahre danach: 681 ndFl.

Die Angabe centesimum fere annum ("fast hundert Jahre"), die nach dem Tode des Romulus bei Livius verstrichen sein sollen, deckt sich mit der Summe seiner Einzelangaben zu den Regierungslängen der römischen Könige bis zum Tode des Ancus Marcius (siehe dazu auch die Tabelle am Ende dieses Kapitels). Die von Weissenborn angegebenen 137 Jahre seit des Romulus` Tod würden bedeuten, dass diese Jahre - vom Beginn der Herrschaft des Tarquinius zurückgerechnet - das Jahr 744 v.Chr. als das Todesjahr des Romulus ergäben und somit für diesen nur höchstens eine neun- bis zehnjährige Regierungsdauer in Frage käme. Andererseits fiele diese Unstimmigkeit weg, wenn diese 137 Jahre vom Beginn der Regierungszeit des Romulus an gerechnet würden, das heißt von der Gründung Roms im Jahre 744 v.Chr., wenn man an dem Jahr 607 v.Chr. für den Regierungsantritt des Tarquinius festhalten will. Hier geht offensichtlich einiges durcheinander.

Auffallend an der Jahreszahl 744 v.Chr. ist, dass diese meinen Überlegungen sehr entgegenkommt, wonach das Jahr des Beginns des römischen Kalenders nicht das Jahr 753, sondern das Jahr 743 v.Chr. bzw. 243 v.Chr. gewesen sein muss. Ich kann daher Weissenborn nicht folgen, eher finde ich die Zahlen des Livius für die konventionelle Chronologie geeignet. Es versteht sich, dass diese Rechnung aber ebenfalls falsch ist, da weder die Reihenfolge der Könige bei Livius richtig ist noch die Regierungslängen des Numa Pompilius und des Tullus Hostilius. Gezeigt werden kann an diesem Beispiel, dass sich die Wissenschaftler in diesen Fragen keineswegs untereinander einig sind.

Der König Tarquinius ist nicht mehr zu retten; er stirbt in den Armen seiner Gemahlin Tanaquil, die (ihrem Sohn) Servius Tullius daraufhin den Eid abnimmt, den Stiefvater zu rächen. Zum Dank verspricht sie, ihm bei der Erlangung der Königswürde beizustehen. Dem Volk gegenüber verhält sie sich so, als ob der König noch lebe, und erwartet von den Bürgern, dass sie (seinem Adoptiv- bzw. Stiefsohn) Servius Tullius gehorchen, solange der König noch genese. Servius Tullius verstellt sich ebenfalls und lässt durchblicken, dass er bei der einen oder anderen Entscheidung "den König um Rat fragen müsse".

Als dann bekannt gemacht wurde, der König sei tot, hatte Servius Tullius bereits eine große Machtfülle angehäuft. Die Söhne des Ancus Marcius gingen vorsichtshalber ins Exil nach Suessa Pometia (südlich der Pomptinae paludes, der berüchtigten Pontinischen Sümpfe).

Meines Erachtens spricht vieles dafür, dass der Putsch der Söhne des Ancus Marcius zunächst zum Erfolg führte. Livius kann hier etwas unbewusst verwechselt oder bewusst entstellt haben; denn die Könige Numa Pompilius und Tullus Hostilius müssen doch irgendwann noch vor Servius Tullius regiert haben. Dass sie nicht zwischen Romulus und Ancus Marcius regiert haben können, habe ich schon deutlich gemacht. Ich sehe daher zunächst den Römer Tullus Hostilius, den thronberechtigten Sohn des Römers (und etwa nicht des Sabiners) Ancus Marcius auf den Thron kommen. Ancus (= Enkel?) war ein Enkel des Mars und nicht des "Sabiners" Numa Pompilius = Numitor, der ein Sohn des Tarquinius-Proca war. Im Jahre 681 ndFl kam das Geschlecht des Aeneas-Romulus wieder auf den Thron. Livius sieht diesen Vorgang folgendermaßen16:

(1) Durch des Numa Tod kam es wieder zu einer Zwischenherrschaft. Dann wollte das Volk den Tullus Hostilius, den Enkel jenes Hostilius, der am Fuß der Burg so ruhmvoll gegen die Sabiner gefochten hatte, als König; die Väter bestätigten die Wahl.

Zur Erinnerung: Livius berichtet (I 12, 2f.), dass Romulus gegen die Sabiner kämpfen musste, nachdem die Römer deren Töchter geraubt hatten. Den Sabinern gelang es, in die Stadt zu dringen, nachdem Hostius Hostilius, der Anführer der Römer, gefallen war. Wenn dieses Ereignis etwa in das Jahr 643 ndFl gehören sollte, dann muss der Sohn oder die Tochter dieses Anführers spätestens 644 ndFl geboren sein.

Da nun Tullus Hostilius nicht der Sohn eines Sohnes des Hostius Hostilius gewesen sein kann - er war der Sohn des Ancus Marcius -, muss eine Tochter des Hostius Hostilius die Gemahlin des Ancus Marcius und die Mutter des Tullus Hostilius gewesen sein. Wenn dieser im Jahre 681 ndFl auf den Thron kam, dann muss er volljährig gewesen sein, was wir aber weiter oben schon festgestellt hatten. Seine Geburtsjahr wäre - da er 682 ndFl mit 32 Jahren starb - 650 ndFl gewesen, und seine Eltern hätten schon im Jahre 643 ndFl, in dem sein Großvater fiel, mit 15 bzw. 20 Jahren geheiratet haben können. Tullus Hostilius kann folglich in der berichtigten Geschichte immer noch der Enkel des unter Romulus gedienten Hostius Hostilius gewesen sein, obwohl er erst nach Ancus Marcius und nicht - wie Livius verfährt - schon vor diesem auf den Thron kam. Ich halte es für möglich, dass Hostius noch gar nicht den Namen Hostilius führte, sondern dass Tullus diesen Beinamen wegen seiner Abstammung von seinem Großvater Hostius trug. Livius fährt fort:

(2) Tullus war aber dem letzten König (er meint Numa Pompilius) nicht nur unähnlich, sondern sogar noch ungestümer als Romulus. Jugend und Kraft, aber auch der vom Großvater überkommene Ruhm erhitzten sein Gemüt. Überzeugt davon, dass die Bürgerschaft durch Ruhe ihre Kraft verlöre, suchte er allenthalben nach einem Anlass, einen Krieg auszulösen.

Die Hinweise auf Romulus und den Ruhm des Großvaters, mit dem ebenfalls Romulus (und nicht nur Hostius) gemeint sein dürfte, lässt erkennen, dass wir es hier mit einem Enkel des Romulus zu tun haben, der ebenso kriegslüstern ist wie der Großvater. Anlass zum Krieg mit Alba Longa bieten Zwischenfälle in den Grenzgebieten. Gesandte werden erst zu Caius Cluilius, dem Herrscher von Alba Longa, und dann von diesem zu Tullus Hostilius geschickt, die aber nichts ausrichten; denn Tullus will diesen Krieg. Livius sieht in diesem Krieg einen Bürgerkrieg, da Alba Longa eine Stadtgründung des Ascanius (also des Ancus Marcius, des Vaters von Tullus Hostilius) war, von wo auch die Römer abstammten. Letzteres ist natürlich sagenhaft und falsch.

Trotzdem spricht Livius hier völlig korrekt von einen Bürgerkrieg, da der Herrscher von Alba Longa vermutlich ein Bruder des Tullus Hostilius war, den sein Vater schon im Zuge der Gründung Alba Longas hier eingesetzt hatte. Dass er einen fremden Familiennamen trug, braucht - nach allem, was wir bisher bei Livius beobachtet haben - nicht den Tatsachen zu entsprechen. So bezeichnet Livius den Caius Cluilius denn auch an anderer Stelle lediglich als einen "Heerführer" der Albaner (I 23, 3), und der Kommentator hält den Namen Cluilius ohnehin für eine ätiologische Fiktion17, da der von Cluilius angelegte Graben auf römischem Territorium der Cluilische Graben genannt wurde und noch in späterer Zeit als Entwässerungsgraben diente.

Nach dem Tode des Cluilius - er starb in dem Lager auf römischem Gebiet, um das herum er den nach ihm benannten Graben gezogen hatte - wählten die Albaner den Mettius Fufetius zum Diktator. Zwischen ihm und Tullus Hostilius wurde vereinbart, dass es nicht zu einer Schlacht kommen sollte, sondern dass ein Gottesurteil darüber entscheiden möge, wer von beiden in Zukunft bestimmen solle. Livius fährt fort:

(24, 1) Zufällig waren damals in beiden Aufgeboten Drillingsbrüder, an Jahren wie an Kräften ungefähr gleich. Dass es die Horatier und die Curiatier gewesen sind, steht zur Genüge fest, und kaum eine andere Begebenheit aus der Vorzeit ist bekannter; dennoch bleibt es bei sonst klarem Sachverhalt hinsichtlich der Namen ungewiss, welchem Volk die Horatier und welchem die Curiatier angehörten. Die Geschichtsschreiber sind geteilter Meinung; ich indessen finde, die Mehrheit bezeichne die Horatier als Römer, und neige dazu, ihr zu folgen.

Zunächst bis hierher. Die Misere der antiken Geschichtsschreibung kann kaum deutlicher zum Ausdruck gebracht werden: es gab überhaupt keine Geschichtsschreibung! Gemacht wurden Aufzeichnungen von mündlichen Überlieferungen, wie wir es schon bei Herodot gesehen haben, und alles hing vom Erinnerungsvermögen, von der Glaubwürdigkeit und von der Unvoreingenommenheit der befragten Personen ab. Die Wahrheit hing an einem seidenen Faden. Deshalb haben wir auch das Recht, an den Überlieferungen der Historiografen den Rotstift anzusetzen und ihre Angaben an das "Urmeter" der Geschichtsschreibung anzulegen, an den berichtigten Chronologierahmen. Im Vertrauen hierauf, nämlich auf die Richtigkeit der Chronologie in der "Neuen Sicht", können wir die Entstellungen der Geschichte bei Herodot, Livius - und wie sie alle heißen - entlarven und korrigieren.

Der Sieg der gegeneinander antretenden Drillinge soll darüber entscheiden, welches Volk nachher über das andere die Herrschaft ausüben solle. Ein Vertrag legt fest, wie diese Herrschaft gehandhabt werden soll: in ehrenhaftem Frieden. "... und dies ist die älteste Kunde von einem Vertrag."

Der Zeremonienpriester M. Valerius macht einen gewissen Sp. Fusius zum Erzpriester, und beide bringen den Vertrag unter vielen Eidesformeln zustande, welche wiederzugeben Livius für "nicht der Mühe wert" hält. Vermutlich kannte er sie im Wortlaut auch gar nicht. Prinzipiell haben wir es bei ihm mit derselben Freizügigkeit wie bei Herodot zu tun, indem beide - und andere antike Schriftsteller natürlich auch - Reden, die vielleicht gehalten worden sind, in einem scheinbaren Wortlaut wiedergeben, der ihnen (vermutlich auch schon mangels Kurzschrift) gar nicht vorliegen konnte. Die Gentes (= Geschlechter, Familien) Valerius und Fusius (später Furius) waren römisch-patrizisch.

Nachdem der Vertrag auf beiden Seiten beschworen war, nahmen die Drillinge die Waffen auf und traten gegeneinander an. Im Nahkampf fielen zuerst zwei Römer, während die drei Albaner nur verwundet waren. Der dritte Römer war zwar unverletzt; aber er stand gegen drei Gegner. Er griff daher zu einer List: Er rannte vom Kampfplatz weg, und die angeschlagenen Albaner konnten ihm nur mit Mühe folgen. So zog er die drei auseinander und konnte, sich wieder zurückwendend, jeden einzelnen nacheinander besiegen. Rom war damit zur beherrschenden Stadt geworden, und Alba Longa, noch vor gar nicht langer Zeit gegründet, musste sich fügen.

Als nach kurzer Zeit ein Krieg Roms mit seiner Pflanzstadt Fidenae ausbrach, auf deren Seite auch wieder einmal - wie zu der Zeit des Romulus - die Veienter standen, die Bewohner der etruskischen Stadt Veii, verhielten die Albaner sich zunächst bündnistreu, schwankten dann aber und zogen sich solange vom Kampf zurück, bis die Römer gesiegt hatten. Tullus nahm dies zum Anlass, Mettius öffentlich des Verrats zu bezichtigen und ließ ihn auf eine überaus grausame Art töten: zwischen zwei Viererzüge gespannt wurde er von den anziehenden Pferden zerrissen.

Die Stadt Alba Longa wurde - mit Ausnahme der Tempel der Götter - geschleift, die Bewohner auf den caelischen Hügel in Rom umgesiedelt, wo auch Tullus seinen Königssitz nahm. Zu den Vornehmen der Albaner zählt Livius auch die Julier und die Servilier. Die ersteren waren die Nachfahren des Aeneas-Iulius-Romulus, also auch die seines Sohnes, des Stadtgründers Ascanius = Ancus Marcius, und die anderen waren offensichtlich die Familie des Servius-Arruns, die nun plötzlich nicht mehr in Corniculum (= Collatia?), sondern ebenfalls in Alba Longa angesiedelt worden war. Ob Servius Tullius, der unter seinem Namen Egerius in Collatia eingesetzt worden war, schon jetzt nach Rom kam oder erst in der Schlussphase des Tullus Hostilius, lässt sich in Anbetracht der vielen Alternativangaben bei Livius nicht mit Bestimmtheit aussagen.

Livius meint, Alba Longa habe 400 Jahre bestanden. Der Kommentator18 meint dazu:

Die gleiche Zeit von 400 Jahren setzt auch Justin (43, 1, 13) für das Bestehen von Alba Longa an. Vergil (Aeneïs 1,272) kommt insgesamt ebenfalls auf 400 Jahre, wenn zu den 300 Jahren Alba Longas vor der Gründung Roms noch 100 Jahre seit Roms Bestehen bis zum Fall von Alba Longa zugerechnet werden. Dionysios von Halikarnassos (1,74,2 nach Cato) nimmt einen längeren Zeitraum an, nämlich 532 Jahre. Die kürzere Zeitspanne wurde von den Epikern angenommen, die längere von den Historikern errechnet. Wo die längere Spanne als Grundlage diente, musste zur Überbrückung der Lücke die albanische Königsliste eingesetzt werden. Livius scheint hier den dichterischen Darstellungen zu folgen.

Ich möchte es einmal so formulieren: Die Historiografen und epischen Dichter der Antike wussten kaum noch, was sie überhaupt glauben sollten! Selbstverständlich sind die 400 Jahre genau die Jahre für das "dunkle Zeitalter Griechenlands, Roms und Kleinasiens" und haben folglich niemals existiert.

Im Vertrauen auf die von ihm vereinigten albanischen und römischen Streitkräfte erklärt Tullus Hostilius den Sabinern den Krieg, dem damals nächst den Etruskern an Bevölkerungszahl und Bewaffnung stärksten Stamm. Die Sabiner waren sich der Tatsache bewusst, schreibt Livius, dass sich die Hälfte ihres Volkes schon in Rom befand, wohin sie von ihrem König Tatius verpflanzt worden war. Hiermit bestätigt er, dass Titus Tatius nicht schon vor dieser Umsiedlungsaktion gestorben sein kann; denn in Wirklichkeit ist dieser "Sabinerkönig" ja Tyrsenos-Tarquinius, der eigentliche Führer der Etrusker, wenn man bei diesen nicht an die Urbevölkerung, an die Rasen(na) denkt. So ist denn auch die Frage, ob die Etrusker aus der Stadt Veii, die Veienter, Etrusker im Sinne von Tyrsener-Sabiner oder im Sinne von Rasenna sind, die schon lange vor den Dorern, Tyrsenern und Juliern - und womöglich auch schon lange vor den Ital(ik)ern - in Italien ansässig waren.

Die Veienter hatten durch ihr neuerliches gemeinsames Vorgehen mit den Fidenaten gegen Rom die beim erstenmal unter Romulus vereinbarte hundertjährige Waffenruhe gebrochen, von der Livius meint, dass sich die Veienter bislang an sie gehalten hätten. Er sagt aber auch im gleichen Atemzug, dass die Friedenszeit Roms nach diesem (ersten) veiischen Krieg vierzig Jahre gedauert hätte. In Wirklichkeit hat es weder eine vierzig- noch eine hundertjährige Friedenszeit Roms gegeben, wenn wir die berichtigte Chronologie anwenden; denn schon unter Ancus Marcius wurden wieder Kriege mit den Nachbarn geführt, wenn auch die Veienter dabei nicht ausdrücklich erwähnt werden. Die (annähernd) vierzigjährige Friedenszeit möchte ich daher ausschließlich mit den Veientern verbinden, die seit ihrer Niederlage gegen Romulus, die möglicherweise noch an den Anfang von dessen Regierungszeit gehört (etwa ins Jahr 644 ndFl), bis dato (682 ndFl) keine Feindseligkeit gegen Rom hatten zu schulden kommen lassen.

Mit diesen Veientern, die Livius zu den Etruskern zählt, verbündeten sich die Sabiner. Tullus begann den Krieg mit einem Vorstoß ins Sabinerland. In einem Gefecht an dem so genannten Schelmenwald (Silva Malitiosa), wo sich besonders die von Tullus verstärkte römische Reiterei auszeichnete, blieben die Römer siegreich. Die Sabiner dagegen hatten große Verluste. Im Anschluss an diesen Krieg ereignete sich etwas Ungewöhnliches, wie Livius schreibt:

(31, 1) Als nach der Niederwerfung der Sabiner des Tullus Königtum und der ganze römische Staat in großer Herrlichkeit und Machtfülle dastanden, wurde dem König von den Vätern gemeldet, auf dem Albanerberg habe es Steine geregnet. (2) Da dies kaum glaubhaft schien, wurden Leute hingeschickt, die das Wunder prüfen sollten; vor deren Augen fielen zahlreiche Steine vom Himmel nicht anders, als wenn die Winde Schlossen in Schwaden über die Erde treiben.

Es bedarf keines besonderen Hinweises darauf, dass Livius nun die Götter ins Spiel bringt, deren Unmut als Erklärung für dieses Phänomen herhalten muss. In der Tat ist es aber auch nicht ganz einfach, auf die Frage, worum es sich bei besagtem Steineregen gehandelt haben könne, eine naturwissenschaftlich fundierte Antwort zu geben. Die Beschränkung dieser Erscheinung auf einen begrenzten Bereich (Albaner Berge) lässt eher auf ein lokales Ereignis schließen, das aber nicht näher beschrieben wird und daher kaum in Frage kommt - es sei denn, man habe es unterschlagen, um die Erscheinung religiös deuten zu können.

Die zeitliche Nähe zu dem Fidenaten- bzw. Veierkrieg könnte zu der Vermutung Anlass geben, diese Erscheinung gehöre in die Zeit des ersten Krieges gegen diese beiden Völker, das heißt, diese Erscheinung könnte noch mit dem Siddim-Einsturz des Jahres 641 ndFl zusammenhängen, mithin sogar in eine Zeit vor der Ankunft des Tyrsenos-Remus gehören, als Aeneas-Romulus, wenn er tatsächlich schon vor Tyrsenos in Italien eingetroffen war, womöglich noch in einer Stadt in den Albaner Bergen lebte und Rom noch gar nicht gegründet war. Bekanntlich waren damals auf Ägypten ebenfalls "heiße (Barad-)Steine" gefallen, die vom Siddim-Einsturz herrührten. Solche Steine könnten durchaus bis in die Gegend von Rom geschleudert worden sein. Beim Ausbruch des Thera-Vulkans waren sogar noch größere Steine bis nach Hellas (Orchomenos in Boiotien) geflogen.

Bezeichnenderweise lässt Livius wenig später eine Seuche auftreten, die an die große Pest in Vorderasien und Südosteuropa erinnert, die im AT unter Hiskia (662-676 ndFl), in Kleinasien zu der Zeit des Dichterkönigs Mursilis II (Zeitgenosse Hiskias) und in Athen unter Perikles auftrat. Mit letzterem ist in diesem Falle jedoch der athenische Tyrann Peisistratos gemeint, was hier noch nicht erklärt werden kann. Jedenfalls gehört dieser ebenfalls in die in Rede stehende Zeit. Ob Tullus an dieser Krankheit starb, oder ob er tatsächlich in seinem Haus vom Blitz erschlagen wurde und "samt seinem Hause (Palast) verbrannte" (31, 8), ist schwer zu sagen.

Wenn Livius sagt (31, 8), Tullus habe "bei großem Kriegsruhm" 32 Jahre regiert, dann halte ich das für eine missbräuchliche Verwendung der Zahl 32: Es soll heißen, Tullus Hostilius (= der Feindselige) habe bis zum 32. Lebensjahr regiert, und da er im Jahre 650 ndFl geboren sein kann, würde das Ende seiner Regierungszeit schon ein Jahr nach seinem Regierungsantritt liegen: im Jahre 682 ndFl. Dieses eine Jahr würde durchaus für seine von Livius beschriebenen Taten ausreichen.

Nach des Tullus Tod sei, so Livius, die Regierungsgewalt, wie üblich, an die Väter zurückgefallen. Diese Regelung hatte bekanntlich den Sinn, auf die Einhaltung der alternierenden Thronfolge zu achten; denn jetzt war wieder ein Nachfahre des Remus-Tatius-Tyrsenos-Tarquinius an der Reihe, auf den Thron von Rom zu steigen. Dass das Volk jetzt den Ancus Marcius zum König wählte, können wir getrost als Falschmeldung ansehen; denn dieser war schon längst tot.

Wie weiter oben schon gesagt wurde, war Numa Pompilius weder der Großvater des Ancus Marcius noch der Nachfolger dessen Vaters (Aeneas-)Romulus. Durch diese falsche Filiation und Generationsfolge geriet die Geschichte der römischen Könige aus den Fugen, und ich vermute, dass dies keineswegs aus Unwissenheit, sondern mit Absicht geschah. Der wirkliche Nachfolger des Tullus Hostilius war nicht Ancus Marcius, sondern Numa Pompilius. Deshalb müssen wir noch einmal einige Kapitel bei Livius zurückgehen, und zwar an den Tod des Romulus anschließend, wenn es dort heißt:

(18, 1) Rühmlich bekannt waren zu dieser Zeit Gerechtigkeit und frommer Sinn des Numa Pompilius. Er wohnte im sabinischen Cures...

Sollten etwa die Sabiner die Römer besiegt haben statt umgekehrt? Wendet sich Livius deshalb so unvermittelt nach der Sabinerschlacht dem Steineregen und der Pest zu, um diese Tatsache zu verschleiern? Mir scheinen in der Tat die kurze Regierungszeit des Tullus und die Nachfolge des Numa Pompilius aus Cures-Sabina dafür zu sprechen, dass die Thronfolge des letzteren durchaus künstlich beschleunigt worden sein kann. Die Herkunft des Nachfolgerkönigs aus einer eben erst besiegten Stadt wäre nicht so leicht zu erklären.

Weiter oben hatte ich aber auch schon gesagt, dass Numa Pompilius durchaus von dem Philosophen, Mathematiker und Astronomen Pythagoras erzogen worden sein kann, der (konventionell) im 6. Jhdt v.Chr. lebte. In der berichtigten Chronologie entsprechen die Jahreszahlen, die mit Pythagoras konventionell verbunden werden, genau der Zeit, in der Numa Pompilius aufwuchs. Da er etwa im Jahre 643 ndFl geboren wurde und im Jahre 682 ndFl als Vierzigjähriger auf den Thron kam, müsste seine Lehrzeit bei Pythagoras etwa um das Jahr 660 ndFl gelegen haben in der Regierungszeit des Ancus Marcius.

Numa Pompilius wurde 643 ndFl als Sohn des Tarquinius mit seiner ersten Frau geboren, deren Name nicht überliefert ist. Ich halte seine erste Frau für die um etwa 628 ndFl geborene Tochter Lavinia des Latinus-Aeneas, wodurch Numa Pompilius zum Enkel des Romulus würde, in dessen Nachfahrenreihe er in der Sage als Numitor erscheint. Die zweite Frau, Tanaquil, heiratete Tarquinius erst nach dem Tod seines Bruders Servius-Arruns von Corniculum während seiner Zeit als König von Tarquinii im Jahre 653 ndFl, kurze Zeit vor der Geburt seines Stiefsohnes Egerius = Servius Tullius. Einige Jahre später kam sein richtiger Sohn Numa Pompilius zu Pythagoras in die Lehre.

Der Name Numa leitet sich nach Ansicht des Livius offensichtlich von dem griechischen Wort nomos für Gesetz ab, während Pompilius von dem lateinischen Wort pompilus (= griech. pompilos, beides bezeichnet einen Seefisch) abgeleitet sein dürfte. Ähnlich wie der Name Remus (lat. für Ruder oder Flossen) für seinen Vater Tyrsenos-Tarquinius deutet sein Name entweder auf die überseeische Herkunft des Tarquinier-Geschlechts oder sogar direkt auf Cetus = Ketos = Seth hin, den Wal als Symbol der Sethariden, aus deren Geschlecht sie stammten.

Letzter Stand: 15.12.2011

10 Livius, Ab Urbe Condita, Buch I Kapitel 16
11 Robert Feger
12 Den Namen von proceres abzuleiten und mit hervorragend oder Führer zu übersetzen, halte ich für umständlich und beschönigend.
13 Livius, Ab urbe condita, Buch I Kap. 18.
14 Ebenda, Buch I, Kommentar Robert Feger
15 Livius I 3, 3 und 4
16 Livius, Ab urbe condita, I 22
17 Robert Feger mit Bezug auf Niebuhr (1,110), der annimmt, dass dieser Name mit dem lateinischen cluere = purgare bzw. dem griechischen klyzein (beides = reinigen) zusammenhängt und auf einen Entwässerungsgraben hindeutet; vgl. Plinius nat.hist. 15,119 und Strabo 5,230.
18 Robert Feger, Anm. 128 zu Livius, Ab urbe condita, I 29

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