Zehntes Buch: Darius und Xerxes
2. Kapitel: 

Hellas im Peloponnesischen Krieg

  Teil IV: 

Der Peloponnesische Krieg

    1. Teil: Allgemeines und das Jahr 692 ndFl


Allgemeines

Nach dem mehr als hundert Seiten umfassenden Ersten Buch des "Polemos" beginnt die Beschreibung des Krieges selbst erst mit dem Zweiten Buch, an dessen Beginn die wichtigen Zeitangaben zum Peloponnesischen Krieg gemacht werden:

1.: Vierzehn Jahre hatte der nach der Eroberung Euböas auf dreißig Jahre abgeschlossene Vertrag zwischen den Athenern und den Peloponnesiern gehalten, bis er im fünfzehnten Jahr durch den Beginn der Kampfhandlungen zwischen den Parteien gebrochen wurde.

Im vorangegangenen Kapitel hatten wir festgestellt, dass die Entscheidung darüber, dass Athen den Vertrag gebrochen habe, im vierzehnten Jahr nach dem Abschluss des dreißigjährigen Vertrages, durch den der euböische Krieg beendet worden war, gefallen war, mithin dreizehn Jahre nach 679 ndFl, also 692 ndFl, als Archidamos noch nicht König von Sparta war. Das wurde er erst im folgenden Jahr, in dem er den Krieg mit seinem Einfall in Attika eröffnete, den so genannten Archidamischen Krieg (erster Teil des Peloponnesischen Krieges: konv. 431-421 v.Chr.). Wir waren zu dem Ergebnis gekommen, dass zwar der Beschluss zur Kriegsführung schon ins Jahr 692 ndFl gehöre, im Jahre 693 ndFl aber erst der Beginn des Krieges gesehen werden müsse (Thuk. I, 86-87).

Diese Zweizügigkeit, der Beschluss und die Eröffnung eines Krieges in zwei unterschiedlichen Jahren, erinnert an die konventionell viel später gesehene Zweizügigkeit unter den Makedonenkönigen Philipp II und Alexander III:

338 v.Chr.: Schlacht bei Chaironeia; Konstituierende Versammlung des panhellenischen Bundes in Korinth mit Schaffung einer Koinè Eiréne (allgemeiner Friede); Tod des Perserkönigs Artaxerxes III Ochos.

Das gehört - mit Ausnahme des Todes des Kyros (statt des Artaxerxes III Ochos) - ins Jahr 691 ndFl. Der Hellenische Bund war im Herbst des Jahres (konv.) 340 v.Chr. analog 689 ndFl auf Initiative des Demosthenes gegründet worden. In demselben Jahr, das bedeutet in der Abwesenheit der Peisistratiden, hatte Athen Philipp I den Krieg erklärt. Hierüber ist in vorangegangenen Kapiteln bereits abgehandelt worden. Bengtson1 führt hierzu ergänzend aus:

(Seite 299) Während Philipps (Bengtson meint Philipp II, es handelt sich jedoch um Philipp I) Versprechungen bei den östlichen Lokrern und bei den Phokern auf fruchtbaren Boden fielen, brachte Demosthenes auf der Grundlage des hellenischen Bundes eine große Koalition zustande, die sich über ganz Mittelgriechenland, über Teile der Peloponnes (Megara, Achaia) und zahlreiche Inseln erstreckte. ...

Der erste Schlag des makedonischen Löwen (Philipp I war zu dieser Zeit aber noch nicht König von Makedonien, sondern Tagos von Thessalien) traf die Söldner unter Chares und Proxenos (etwa Miltiades und sein "Gastfreund" Kimon?) bei Amphissa (im östlichen Ozolischen Lokris). ... Delphi und sogar das wichtige Naupaktos fielen in makedonische (es muss heißen: thessalische) Hand. Um nicht umgangen zu werden, zogen sich die Griechen nach Chaironeia zurück ..., wo es dann zu der entscheidenden Schlacht kam.

Wir befinden uns im Jahre 691 ndFl, ein Jahr vor Beginn des "langen" Peloponnesischen Krieges. Die Zweizügigkeit kommt dann in den folgenden Angaben zum Ausdruck:

337 v.Chr.: "Kriegssitzung" des Korinthischen Kongresses: Beschluss des Perserkrieges.

336 v.Chr.: Im Frühjahr eröffnen Parmenion und Attalos auf kleinasiatischem Boden den Perserkrieg.

Der hier gemeinte Perserkrieg ist nicht mit demjenigen aus den Jahren (konv.) 480/479 v.Chr. analog 728/729 ndFl zu verwechseln. Die hier angesprochenen Ereignisse gehören in die Jahre 692 und 693 ndFl; zu gegebener Zeit komme ich darauf zurück.

Die Eroberung Euböas und der Vertragsbeginn würden demnach in das Jahr 679 ndFl (konv. 445 v.Chr.) gehören. Eretria auf Euböa war 682 bis 692 ndFl das Peisistratiden-Exil, und drei Jahre zuvor müsste Euböa von den Athenern erobert worden sein, offensichtlich gegen die Interessen Spartas, weshalb es zum Friedensschluss kommen musste. Möglicherweise handelt es sich hier aber schon um Zusammenziehungen mehrerer Ereignisse. Beschrieben wird dieser Vorfall im "Polemos" (Thuk. I, 112) an einer Stelle, die deutlich als eine Torsion zu erkennen ist. Im vorangegangenen Kapitel habe ich darauf schon hingewiesen.

Zu den Zeitangaben zum Beginn des Peloponnesischen Krieges gehört auch die folgende:

2.: Das war das Jahr, in dem Chrysis in Argos 48 Jahre Priesterin war.

Somit hat Chrysis im Jahre (693 minus 48 =) 645 ndFl ihr Amt angetreten. Gemäß Thuk. IV 133 war sie 8 1/2 Kriegsjahre Priesterin und floh dann aus Angst vor der Bestrafung durch die Argeier nach Phlius: (konv.) 423 v.Chr.; sie hatte durch ihren Leichtsinn mit einer brennenden Kerze den ganzen Tempel in Brand gesetzt. Bezeichnend ist, dass Hellanikos aus Mytilene auf Lesbos, den ich im vorangegangenen Kapitel mit (dem allerdings aus Athen stammenden) Xenophon identifiziert habe, in dem ich aber auch den "Polemos"-Autor sehe, ein Werk Die Priesterinnen der Hera in Argos verfasst hat.

Mit einer weiteren Zeitangabe im "Polemos" dürfte ebenfalls der kürzere Krieg gemeint sein, der erst im Jahre 693 ndFl begann:

3.: Sechs Monate nach der Schlacht bei Poteidaia rückten zu Anfang des Frühlings Bewaffnete aus Theben in dessen Nachbarstadt Platäa ein, die mit Athen verbündet war.

Der Krieg begann demnach im Frühjahr, und wenn er 27 1/2 Jahre dauerte, dann endete er im Herbst des Jahres (693 + 27 =) 720 ndFl. Dem widerspricht die Angabe, die Kapitulation Athens sei im März/April des Jahres 404 v.Chr., also im Frühjahr erfolgt, womit der Krieg dann zu Ende war. Diesen Widerspruch schafft man aus der Welt, indem man den Krieg schon im Herbst des Vorjahres (konv. 432 v.Chr.) beginnen lässt, also 692 ndFl. Dann kann man von 27 1/2 Jahren sprechen. Dadurch scheint der Krieg aber (720 minus 692 bzw. 432 minus 404 =) 28 Jahre gedauert zu haben, was zu einem Missverständnis geführt haben kann, auf das ich noch zurückkommen werde.

Wie wir noch sehen werden, gehört der eigentliche Beginn der Kampfhandlungen zwischen Athen und Sparta erst in die Mitte des Sommers 693 ndFl. Das macht es ebenfalls weniger wahrscheinlich, dass der Krieg schon im Frühjahr mit dem Einfall der Thebaner ins attische (!) Land wegen Platäa seinen Anfang genommen habe.

Außerdem hatten wir gesehen, dass die Ereignisse um Poteidaia es rechtfertigen würden, schon das Jahr 692 ndFl als das erste Kriegsjahr anzusehen. Inwiefern diese Ansicht ihre Berechtigung hat, werde ich in diesem Kapitel deutlich machen.

In die Anfangszeit des Peloponnesischen Krieges gehört ein weiterer Chronologiestrang, der allerdings ebenfalls in hohem Maße anachronistisch durchsetzt ist: Die Zeit der Hegemonie Thebens (konv. 371-362 v.Chr.) stellt in konventioneller Darstellung eine unerlaubte Verbindung zwischen Jason von Pherai und Kleombrotos her. Zwischen diesen beiden Herrschern liegen etwa fünfunddreißig Jahre. Mithin handelt es sich hier um eine der Nahtstellen, wie sie in der konventionellen Geschichte häufig vorkommen, an denen jüngere Ereignisse noch weit in die älteren hineingezogen wurden - oder umgekehrt.

Die Hegemonie Thebens ist mit Epaminondas (= Parmenion, Pammenes) untrennbar verbunden. Ob es sich tatsächlich um eine Hegemonie in Hellas handelte, sei noch dahingestellt. Wegen der Bedeutung Thebens, die für diese Zeit zweifellos gegeben ist, bleibt es jedoch gewiss, dass der Peloponnesische Krieg nicht nur die peloponnesischen Staaten Sparta und Korinth, sondern auch Theben zu gemeinsamen Gegnern der Polis Athen vereint hat. Athen, das sich intensiv darum bemüht, Hegemonialmacht in Hellas zu werden, tritt nun einen langen und verlustreichen Gang an.

Nicht nur bei Herodot, dessen eigentümliche Sicht dieser Ereignisse wir weiter oben schon erfahren haben, sondern auch im "Polemos" und erst recht in den Hellenika gehen die Ereignisse dieser Zeit durcheinander. Das führt dann konventionell zu einer Anbindung der "Hegemonie Thebens" an die Feldzüge unter den "Doppelkönigen" Agesilaos und Kleombrotos in Boiotien, was vollkommen anachronistisch ist; denn diese Feldzüge gehören in die Jahre 726/7 ndFl, also sechs bis sieben Jahre nach dem Peloponnesischen Krieg, während der Thebaner Epaminondas und die Hegemonie Thebens schon in die Zeit vor und in diesem Krieg gehören.

Die Kontroverse Theben-Platäa soll dagegen in diese Zeit gehören, obwohl sie de facto erst in die Zeit nach dem Perserkrieg gehört. Konventionell ist der Perserkrieg (480/479 v.Chr.), in dem die entscheidende Schlacht bei Platäa stattfand, sogar schon mehr als hundert Jahre vorbei, wenn Platäa durch Theben vernichtet wird (konv. 374/3 oder 373/2 v.Chr.). In Wirklichkeit liegen dazwischen nur wenige Jahre.

Wir sehen mehrere Chronologiestränge parallel laufen und sich ergänzen, während die Einzelereignisse konventionell hintereinander gestaffelt worden sind.

Gleichzeitig müssen wir aber auch feststellen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, die Situationen bis in alle Einzelheiten wiederzugeben. Dazu ist zu vieles einfach zu falsch überliefert.

Das gilt besonders für die mit Theben verbundenen Ereignisse. Um eine genaue Beschreibung der Rolle Thebens in dieser Zeit zu gewinnen, müssten wir die Hellenika des Xenophon zu Rate ziehen, was gewiss nicht ohne Korrekturen vor sich gehen kann; deshalb vertagen wir diesen Komplex zunächst, da sich dadurch nur noch weitere Kompliziertheiten in dieser schon sehr komplexen Materie ergeben würden.

Die Verbündeten der am Peloponnesischen Krieg beteiligten Parteien verteilten sich wie folgt (Thuk. II, 9):

Auf der Seite der Lakedaimonier standen sämtliche Peloponnesier innerhalb des Isthmos mit Ausnahme von Argos und Achaia, die mit beiden Parteien befreundet waren; nur die zu Achaia gehörenden Pellener nahmen sofort am Krieg teil, und später folgten auch die übrigen Achäer nach. Außerhalb der Peloponnes waren es die Megarer, Phoker, Lokrer, Böoter, Amprakioten, Leukadier, Anaktorier. Schiffe wurden gestellt von Korinth, Megara, Sikyon, Pellene, Elis und Leukas (Insel bei Akarnanien) sowie von Amprakia (im südl. Epirus). Die Reiterei stellten die Böoter, die Phoker und die Lokrer. Alle übrigen stellten Fußtruppen.

Zu den athenischen Bundesgenossen zählten die Chier, die Lesbier, die Platäer (?), die Messenier in Naupaktos, der größere Teil der Akarnanen, die Kerkyräer, die vor noch nicht langer Zeit zwei Seeschlachten mit Korinth geführt hatten, die Zakynthier und die tributpflichtigen Städte in folgenden Ländern: im karischen Küstenland, bei den dorischen Nachbarn der Karer, in Ionien, am Hellespont und in Thrakien, ferner alle Inseln östlich von der Peloponnes und nördlich von Kreta, mit Ausnahme von Melos und Thera (blieben neutral). Schiffe lieferten: die Chier, Lesbier und Kerkyräer, die übrigen stellten Fußtruppen und zahlten Geldbeträge. Samos unter Polykrates zählte natürlich nicht dazu; das kann konventionell nicht zum Ausdruck kommen! Der Krieg beginnt konventionell erst etwa hundertsiebzig Jahre nach dem Tode des Polykrates und des Kambyses.

Es handelt sich hierbei um die Schaffung des 1. Seebundes. Der 2. Seebund wurde erst kurz vor dem Perserkrieg gegründet. Es wurde niemals ein zweiter genau hundert Jahre nach dem ersten gegründet. Aus diesem 1. Seebund fanden sich dann die genannten Bundesgenossen ein. Die Kleon-Schatzung des Jahres (konv.) 424 v.Chr. analog 692 ndFl gehört zur Gründung dieses Delisch-Attischen Seebundes und fand am Beginn des Krieges statt (siehe dazu die Korrekturen des angeblich achten Kriegsjahres weiter unten!). Die "Hauptstadt" dieses Seebundes war die Insel Delos, und hier befand sich die Kasse. Die Gründung des 2., des Attischen bzw. Athenischen Seebundes, gehört in dasselbe Jahr, in dem der ägyptische Statthalter Hakoris von Persien abfiel. Das war kurz vor dem Perserkrieg. Die Kasse dieses Seebundes war dann nicht mehr auf Delos, sondern in Athen. Es wäre zu bedenken, ob nicht der Finanzexperte Eubulos, in dessen Gefolgschaft unter anderem auch Demosthenes groß geworden ist, die Seebundkasse statt die Theatergelder (Theorikon) verwaltete, was ihn in die Nähe des Kleon brächte.

Zu den Platäern als Bundesgenossen von Athen gilt das weiter unten noch Auszuführende. Zu den Messeniern in Naupaktos ist anzumerken, das sie erst im zehnten Jahr nach dem Beginn ihrer Belagerung auf dem Ithomeberg von den Athenern als den nunmehrigen Feinden der Lakedämonier ... in Naupaktos angesiedelt wurden, das die Athener jüngst den Ozolischen Lokrern abgenommen hatten (Thuk. I, 103). Die Ansiedlung gehört erst ins Jahr 701 ndFl. Als Bundesgenossen der Athener wären sie nicht vor diesem Jahr in Frage gekommen. Die Einnahme von Naupaktos durch die Athener fand am Anfang des Krieges bereits statt.

Der Krieg soll einmal begonnen haben, indem Archidamos mit dem Heer der Peloponnesier in Attika einfiel, ein andermal soll der Überfall der Thebaner auf Platäa der Beginn des Krieges gewesen sein.

Wir erinnern uns: (Thuk. II, 2) Der Krieg begann mit dem militärischen Überfall Thebens auf das mit Athen verbündete Platäa. Wie ich noch zeigen werde, gehört diese Agression jedoch nicht in diese, sondern in die Zeit kurz nach dem Perserkrieg. Der "Polemos" schildert den Überfall der Thebaner auf Platäa im ersten Jahr des "kurzen" Krieges folgendermaßen (Thuk. II, 2):

Es war ein Trupp von wenig mehr als dreihundert Mann unter Führung des Böotarchen Pythangelos, Sohnes des Phyleides, und Diemporos, Sohnes des Onetorides. Gerufen und in die Stadt eingelassen hatte sie der Platäer Naukleides und dessen Anhang. Diese wollten, um selber zur Macht zu kommen, die Widerstrebenden unter ihren Mitbürgern beseitigen und die Stadt den Thebanern in die Hände liefern. Den Vermittler bei diesem Plane hatte ein sehr mächtiger Bürger Thebens, Eurymachos, Sohn des Leontiades, gespielt.

Hier könnten schon Ereignisse aus zwei unterschiedlichen Epochen vermischt worden sein: Ein Leontiades, Sohn des Eurymachos, war zu Beginn des Perserkrieges Anführer jener Thebaner, die Leonidas bei den Thermopylen mit aufgeboten hatte, weil sie ihm persischer Gesinnung dringend verdächtig waren (Herodot VII, 205). Er wollte Gewissheit haben, ob sie Truppen stellen oder offen den Anschluss an den hellenischen Bund verweigern würden. Sie schickten ihr Aufgebot, dachten aber an Verrat.

Leontiades lief dann auch tatsächlich mit seinen Thebanern zu den Persern über, wie Leonidas befürchtet hatte, und Xerxes ließ ihm und einigen anderen das königliche Brandmal aufdrücken. Der Sohn Eurymachos, so sagt Herodot (VII, 233), wurde später von den Platäern erschlagen, als er an der Spitze von vierhundert Thebanern die Stadt Platäa besetzt hielt. Hierbei handelt es sich doch ganz offensichtlich um den in Thuk. II, 2 erwähnten Trupp von wenig mehr als dreihundert Mann. Die Platäer nahmen von diesem Trupp einhundertachtzig Thebaner gefangen und töteten sie, darunter auch Eurymachos (den Sohn des Leontiades), mit dem die Verräter verhandelt hatten (Thuk. II, 5).

Es hat demnach zwei unterschiedliche Filiationen gegeben: Leontiades als Sohn des Eurymachos (Herodot VII, 205) und Eurymachos als Sohn des Leontiades (Thuk. II, 2; Herodot VII, 233). Wenn es einen von ihnen nur einmal gegeben hätte, dann muss der andere in "der Ältere" und "der Jüngere" aufgespalten werden. Da Herodot in beiden Fällen denselben Leontiades meint, nämlich den, dem Xerxes das Brandmal aufdrückt, so liegt es nahe, diesen als den Einzigen in die Mitte zu nehmen und die beiden anderen zu Großvater und Enkel zu machen.

Lägen beide Kriege in der konventionellen Reihenfolge, so wäre der Leontiades des Perserkrieges der Sohn eines älteren Eurymachos gewesen und mit dem Vater Leontiades des jüngeren Eurymachos aus dem Peloponnesischen Krieg identisch. Woher konnte Herodot wissen, dass "später", mehr als fünfzig konventionelle Jahre nach dem Perserkrieg, ein Sohn dieses zu Xerxes übergelaufenen Leontiades erschlagen werden würde? Wenn es tatsächlich diese Reihenfolge der Kriege gegeben hätte, dann hätte Herodot im Jahre (konv.) 431 v.Chr. vermutlich gar nicht mehr gelebt, geschweige denn darüber schreiben können. Andererseits wäre in der berichtigten Sicht der Hinweis Herodots auf einen Sohn dieses Leontiades und gleichzeitig auf eine Begebenheit aus dem zurückliegenden (!) Peloponnesischen Krieg (Thuk. II, 5) anachronistisch und absolut unglaubwürdig.

Ich halte die Angabe bei Herodot (VII, 233) daher für die originäre, die eine Begebenheit kurz nach dem Perserkrieg betrifft, und halte die Erwähnung des Eurymachos, Sohnes des Leontiades, im "Polemos" für einen Einschub späterer Ereignisse durch einen Redakteur, was auch im weiteren Verlauf der Kriegsbeschreibung deutlich wird.

Das lässt offen, ob nicht doch ein Eurymachos, Vater eines einzigen Leontiades, im Peloponnesischen Krieg in Theben lebte. In dem Fall könnte Herodot ursprünglich geschrieben haben: dessen Vater Eurymachos ist damals von den Platäern erschlagen worden, als er an der Spitze von 400 Thebanern die Stadt Platäa besetzt hielt. Das hätte von einem Kopisten in der Weise abgeändert worden sein müssen, dass ein Hinweis auf den in konventioneller Sicht noch folgenden Peloponnesischen Krieg entstanden wäre.

Ich halte es aber für wesentlich glaubhafter, dass Herodot mit dem Zug der Vierhundert auf ein Ereignis hinweist, das kurz nach dem Perserkrieg stattfand, und zwar im Zusammenhang mit den "Unruhen in Hellas", in deren Verlauf Theben zerstört wurde (konv. 335 v.Chr. unter Alexander III dem Großen Nr. 2; siehe Bengtson Seite 307). Im Peloponnesischen Krieg hat dieser Zug eines (älteren) Eurymachos noch nichts verloren, und dessen Sohn Leontiades, der Vater des jüngeren Eurymachos, war es, dem Xerxes das Brandmal aufdrückte.

Dennoch muss es auch den älteren Leontiades gegeben haben, den Vater des (älteren) Eurymachos und Großvater des von Xerxes gebrandmarkten jüngeren Leontiades. Dieser ältere Leontiades war ein thebanischer Polemarch und Vorsteher einer oligarchischen Hetairie; er wird als Gegenspieler eines anderen thebanischen Polemarchen und Vorstehers einer Hetairie beschrieben, des Ismenias, der persisches Gold annahm und als spartafeindlich gilt (Hell. V 2, 25).

Konventionell wird der Leontiades der Hellenika sechzig Jahre nach dem Beginn des Peloponnesischen Krieges angesetzt und sogar hundertzehn Jahre nach dem Perserkrieg. Da dieser Leontiades aber beim demokratischen Umsturz zur Beseitigung der Oligarchie und der lakedaimonischen Besetzung Thebens in seinem Hause getötet wird (Hell. V 4,7; 19), kann er nicht derjenige Leontiades gewesen sein, der mit Xerxes den Perserkrieg erleben wird. Dieser Leontiades d. Jüng. muss sein Enkel gewesen sein. Interessant ist auch hier wieder der Hinweis auf demokratische Bestrebungen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges.

Leontiades der Ältere  * ca. 635 ndFl + um 705 ndFl
theban. Polemarch (in den Hellenika)
|
Eurymachos der Ältere  * ca. 660 ndFl
gehört nicht in den "Polemos"!
|
Leontiades der Jüngere * ca. 685 ndFl
geht 728 ndFl zu Xerxes
|
Eurymachos der Jüngere * ca. 710 ndFl + um 732 ndFl
wird nach Revolte erschlagen


Ismenias ist der Halbbruder des Philipp, jener Menelaos = Patizeithes-Spitamenes, der mit seinem Bruder Arrhidaios nach dem Pseudo-Smerdis-Putsch nach Olynth geflohen und von Philipp dort wieder herausgeholt worden war. Folglich muss der Aufenthalt des Ismenias in Theben nach dieser Zeit liegen. Als Gegner der Lakedaimonier wurde er von Leontiades festgenommen und von lakedaimonischen Richtern zum Tode verurteilt und hingerichtet (Hell. V 2, 35 u. 36; konv. um 380 v.Chr.). Danach kann Leontiades d.Ält. erst (gewaltsam) verstorben sein.

Bezüglich des Zeitpunktes des tatsächlichen Beginns des Peloponnesischen Krieges scheint es im Altertum schon zu Meinungsverschiedenheiten gekommen zu sein. Der Peloponnesische Krieg endet in demselben Jahr, in welchem Darius I stirbt: 720 ndFl. In konventioneller Chronologie endet der Krieg im Todesjahr des fiktiven Darius II (= I), im Jahre 404 v.Chr.; sein Beginn ist im Jahre 431 v.Chr. analog 693 ndFl, wenn von einer Gesamtdauer von 27 Jahren ausgegangen wird. Nach abweichender Auffassung soll der Krieg jedoch 28 Jahre gedauert und folglich schon im Jahr (konv.) 432 v.Chr. analog 692 ndFl begonnen haben.

Im ersten Kriegsjahr war Ainesios Ephor in Sparta und in Athen Pythodoros noch zwei Monate Archon. Im 29. Jahr wird Endios als Ephor genannt (Hell. II 3, 10), in dessen Amtsperiode Lysandros, nachdem er alles bisher Berichtete ausgeführt hatte, in die Heimat zurückkehrte. Der spartanische Nauarch (= Admiral, Flottenbefehlshaber) Lysandros habe zu Ende des Sommers des letzten Kriegsjahres den Lakedaimoniern alles übergeben, was noch an Kriegsbeute und sonstigen Werten in seinem Besitz war. Zu diesem Sommer wird [in eckigen Klammern] angemerkt, dass nun die Kriegszeit von 28 1/2 Jahren ihr Ende gefunden habe. Auch die Ephorenliste steht in diesen Klammern, was nicht für eine Originalangabe von Xenophon spricht. So vermerkt auch der Kommentator: Dies ist eine irrtümliche Rechnung des Interpolators; der Krieg dauerte vielmehr 27 1/2 Jahre (s. Thuk. V 26).  Das hier zu Lysandros Gesagte gehört an den Nikias-Frieden (704 ndFl) angeschlossen.

Wer auch immer der "Interpolator" gewesen sein sollte - Xenophon selbst ist gewiss nicht gemeint. Für 27 1/2 Jahre genügen höchstens 28 Ephoren. Wenn aber 404 v.Chr. in konventioneller Sicht das 29. und letzte Kriegsjahr gewesen sein soll, dann müsste der Krieg bereits achtundzwanzig Jahre vorher, also (konv.) 432 v.Chr., begonnen haben.

Falls dies zutreffen sollte, dann müsste auch die Zählung von 28 Kriegsjahren ab 692 ndFl ihre Berechtigung haben. Im "Polemos" (Thuk. V 26) wird wiederum darauf hingewiesen, dass der Krieg dreimal neun Jahre gedauert habe. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass der "Polemos"-Autor von einem Kriegsbeginn im Jahre 693 ndFl ausgeht, während der Zusatz in Xenophons Hellenika [in eckigen Klammern] von einem "Redakteur" eingebracht worden ist. Die Urheberschaft des Xenophon als Autor am "Polemos" bliebe somit weiterhin glaubhaft.

Neben Endias2 in Sparta wird in Hellenika II 3, 1 für das letzte Kriegsjahr als Archon Eponymos in Athen derselbe Pythodoros angegeben, der auch im ersten Kriegsjahr noch für zwei Monate Archon war (Thuk. II, 2). Das passt sehr gut zu der Sonnenfinsternis, die angeblich im letzten Jahr des Krieges stattgefunden haben soll, die aber schon ins erste Kriegsjahr gehört, und zwar des "langen": 692 ndFl.

Diese Sonnenfinsternis wird für das konventionelle Jahr 404 v.Chr. mitgeteilt (Hell. II 3, 4), in dem Lykophron von Pherai, der bestrebt war, seine Herrschaft auf ganz Thessalien auszudehnen, diejenigen unter den Thessalern, die ihm Widerstand leisteten, Larisaier und andere, in einer Schlacht ... besiegte.

Der Kommentator gibt übrigens als Datum für diese Sonnenfinsternis den 3. September 404 v.Chr. an, was unter den Aspekten der berichtigten Chronologie jedoch irrelevant ist. Ob Lykophron in diesem Jahr, dem Endjahr des Peloponnesischen Krieges, überhaupt noch lebt, ist fraglich. Auch aus diesem Grund könnte das hier beschriebene Geschehen mitsamt der Sonnenfinsternis ins erste Kriegsjahr gehören, zumal derselbe Pythodoros, der im ersten Kriegsjahr noch zwei Monate Archon war, auch im letzten Archon gewesen sein soll. Das ist unwahrscheinlich und daher verdächtig.

Es sieht doch so aus, als sei Pythodoros schon im Sommer 692 ndFl Archon geworden und habe vom Frühling des Jahres 693 ndFl an noch zwei Monate dieses Amt ausgeübt.

Bezeichnend ist doch auch, dass Hellenika II 3, 1 durchblicken lässt, dass möglicherweise gar nicht Pythodoros der Archon des letzten Kriegsjahres war, sondern dass dieser, weil er in der Oligarchie gewählt worden sei, gewöhnlich nicht mit Namen aufgeführt wurde. Vielmehr habe man dieses Jahr "das archontenlose" genannt. Die Oligarchie gehört vermutlich tatsächlich in das letzte Kriegsjahr, so dass der Archon dieses Jahres anders geheißen und namentlich nicht mehr bekannt sein kann - oder es gab in diesem "archontenlosen Jahr" überhaupt keinen Archonten! Pythodoros gehört jedenfalls gar nicht hierhin und Lykophron und die Sonnenfinsternis auch nicht.

In Hellenika II 3, 1 wird dazu noch weiter vermerkt, dass in diesem Jahr des olympischen Festes der Thessaler Krokinas im Lauf gesiegt habe und Endias (oder auch Endios) Ephor in Sparta gewesen sei. Letzterer war nicht im ersten Kriegsjahr Ephor, und daher scheint es sich bei Endias um den Ephoros eponymos des letzten Kriegsjahres zu handeln, des Jahres 720 ndFl nämlich. Es hat hier offenbar eine Überkreuzung der Informationen  gegeben, die teils zum ersten und teils zum letzten Kriegsjahr gehören.

Das letzte Kriegsjahr war ein olympisches Spielejahr, das erste war keines; es sei denn, es wäre 692 ndFl (Konv. 432 v.Chr.) gemeint. Dann kann obiger Läufer Krokinas entweder im ersten oder im letzten Kriegsjahr Sieger geworden sein. Für unsere Betrachtungen ist das derzeit ohne Belang.

In den Erläuterungen zu Hellenika Buch VI heißt es: Jason von Pherai (war) wahrscheinlich (der) Schwiegersohn des Tyrannen Lykophron und dessen Nachfolger. Ich hatte in einem vorangegangen Kapitel gesagt, dass wegen dieses späten Zeitpunktes (404 v.Chr.) Lykophron nicht der Schwiegervater des längst verstorbenen Jason gewesen sein könne und dass er vielmehr einer von dessen Nachfolgern gewesen sei. Wenn wir aber jetzt die Ereignisse des Jahres (konv.) 404 v.Chr. bzw. Teile davon ins Jahr 692 ndFl verlegen, dann kann er durchaus noch der Schwiegervater des Jason gewesen sein, der Vater einer Frau, die Jason nach dem Tod der Leda geheiratet haben könnte.

Viel wahrscheinlicher ist aber, dass Lykophron (umgekehrt) der Schwiegersohn des Jason gewesen ist, nämlich ein um 660 ndFl geborener Sohn des Periandros von Korinth (Herodot III, 50-53). Das würde generationsmäßig besser passen. Als Mitfeldherr des Spartaners Brasidas käme er ebenfalls in Frage (Thuk. II, 85). Schließlich hatte ihn Periandros - wie Herodot sagt - aus dem Haus gejagt; warum sollte er sich nicht nach Sparta begeben haben? Sein Engagement in Thessalien, das er als Schwiegersohn außerdem glaubwürdiger begonnen hätte als in der Rolle des Schwiegervaters des Jason, den er auch offensichtlich überlebt hat, liegt ohnehin erst im Jahr der Sonnenfinsternis, und zwar nicht im Jahre (konv.) 404 v.Chr., sondern in demselben Jahr, in dem auch die "beiden anderen" stattfanden und das Erdbeben sowie der Helotenaufstand im ersten Kriegsjahr: 692 ndFl. Unter diesem Aspekt wäre der Information bei Herodot (III, 53) nicht zu glauben, wonach die Ermordung des Lykophron durch die Kerkyräer den Anlass zum Krieg zwischen Korinth und Kerkyra gegeben hätte. Dieser Krieg lag früher (689 - 691 ndFl), und in dieser Zeit muss sich Lykophron in Thessalien aufgehalten haben.

Zu der Sonnenfinsternis im ersten Kriegsjahr, in demselben Sommer, an einem Neumondstage, möchte ich folgendes anmerken: Da in Thuk. lI, 28 nur von ihr und im Anschluss an einen nicht hierher gehörenden Absatz 27 berichtet wird, muss sie nicht ins Jahr (konv.) 431 v.Chr. analog 693 ndFl gehören, sondern sie kann schon ins Jahr 692 ndFl gehören, in welchem auch das Erdbeben in Sparta und der Helotenaufstand stattfanden.

Eine Sonnenfinsternis kann es übrigens nur bei Neumond geben, eine Mondfinsternis dagegen nur bei Vollmond. Wenn es an anderer Stelle heißt, dass diese Sonnenfinsternis an einem ersten Tag im Monat stattgefunden habe, dann sieht das ganz danach aus, als hätten die Monate im griechischen Epagomenen-Kalender mit einem Neumond begonnen.

Ich sehe auch die Sonnenfinsternis, die angeblich im achten Jahr des "kurzen" Krieges stattgefunden haben soll (Thuk. IV, 52: Gleich am Anfang des nächsten Sommers, am ersten Tag eines Monats; konv. 424 v.Chr.), bereits im ersten Jahr des "langen" Krieges, also ebenfalls im Jahre 692 ndFl, das dem Jahr (konv.) 432 v.Chr. entspricht und in dem die Ereignisse um Poteidaia die Züge eines veritablen Krieges annehmen und das ich auch für das wirkliche erste Kriegsjahr halte. Die Berechtigung zu der Übernahme der Sonnenfinsternis aus dem Jahr (konv.) 424 v.Chr. in das Jahr 692 ndFl wird weiter unten plausibel, wenn Ereignisse aus diesem achten Jahr des Krieges direkt ins erste Jahr des "langen" Krieges verweisen.

Der Kommentator rechnet bei der Sonnenfinsternis des Jahres (konv.) 424 v.Chr. mit dem attischen Monat Elaphebolion und kommt auf den 21. März 424 v.Chr., was natürlich in jeder Beziehung Unsinn ist; denn erstens stimmt der konventionelle Kalender ohnehin nicht, und zweitens ist in dieser Zeit noch keine Finsternis zu berechnen, da es sich noch um den Epagomenen-Kalender handelt, der bisher noch nicht an den heutigen angepasst werden konnte in bezug auf die astronomischen Daten, die zur Berechnung einer Sonnen- oder Mondfinsternis zwingend notwendig sind. Das gilt dann natürlich für "alle drei" Finsternisse. Drei Sonnenfinsternisse, die so kurz nacheinander an denselben Orten beobachtbar sind, stellen eine große Unwahrscheinlichkeit dar, so dass Zweifel daran angebracht sind.

Mit Fug und Recht können wir davon ausgehen, dass es sich bei allen drei Sonnenfinsternissen um ein und dieselbe gehandelt hat, die im Jahre 692 ndFl stattfand.

Von nun an wird die Systematik der Wiedergabe der Kapitel des "Polemos" noch komplizierter als bis hier. Da dieses Werk sich in einer horrenden Unordnung befindet, wie der Leser am Ende selbst feststellen wird, so muss ich alle Kapitel zweimal "in die Hand nehmen": das erste Mal, wenn ich chronologisch durch den "Polemos" hindurchgehe, und ein zweites Mal, wenn ich vorauseilen muss, um solche Passagen, die in späteren Kapiteln enthalten sind, die aber in Wirklichkeit in frühere Jahre gehören, vorzuziehen. Ich werde versuchen, diese Schwierigkeiten für den Leser weitgehend durchschaubar zu halten.

Poteidaia gehört, wenn seine Belagerung sechs Monate vor dem Kriegsbeginn im Frühjahr 693 ndFl lag (Thuk. II, 2), in den Herbst 692 ndFl. Sollte der Beginn der Kampfhandlungen jedoch erst in die Mitte des Sommers 693 ndFl gehören, dann müsste die Schlacht bei Poteidaia als der Beginn des 28jährigen Krieges in den Winter des Jahres 692/3 ndFl gehören. Zu Poteidaia (auch Potidäa geschrieben) habe ich schon in den Kapiteln über Philipp I und das Erste Buch im "Polemos" einiges gesagt, in welchem letzteren ich auch überdeutlich gezeigt habe, dass viele Ereignisse, die in die Zeit des Perserkrieges gehören, durch einen Redakteur in die Zeit vor dem und im Peloponnesischen Krieg hinein-"gedichtet" wurden. Dieser Redakteur verfolgte offenbar die Absicht, den Perserkrieg (konv. 480/479 v.Chr.), der in Wirklichkeit noch gar nicht stattgefunden hat, fünfzig Jahre vor dem Peloponnesischen Krieg erscheinen zu lassen. Er dürfte auch derjenige Redakteur gewesen sein, der die Auffassung hatte, der Krieg habe 28 1/2 Jahre gedauert.

Die Schlacht bei Poteidaia ist unter Philipp II für das Jahr 356 v.Chr. vermerkt: erobert und zerstört. Wenn wir aber hören, dass Poteidaia zunächst nach einer Schlacht belagert wurde, bis es (konv. im Winter 430/429 v.Chr. analog 694/695 ndFl) kapitulieren musste, da die Lebensmittel knapp geworden waren, dann gehört die Eroberung und auch die eventuelle Zerstörung schon nicht mehr in das Jahr 356, sondern ins Jahr (konv.) 354 v.Chr. In diesem Jahr soll auch Methone von Philipp erobert worden sein, was ins Jahr 692 ndFl gehört, wie ich noch zeigen werde. Schon 357 soll Philipp Amphipolis und im Winter 357/356 Pydna erobert haben, was den Jahren 689/690 ndFl entsprechen würde. Pydna wurde von Archelaos I = Alexander I/II zurückgewonnen; das ist die Rückeroberung durch den Sohn des Perdikkas, der Pydna seinem ungeliebten und möglicherweise verstorbenen Onkel (nicht Vater!) Philipp wieder abnahm. Auch hierauf werde ich zurückkommen.

Meines Erachtens liegt hier eine chronologische Schwachstelle vor; denn da die Athener die Belagerung Pydnas kurz nach dem Beginn schon wieder aufgegeben hatten (konv. 432 v.Chr. analog 692 ndFl), so gehört Amphipolis in das Jahr 691 oder besser noch in das Jahr 689 ndFl: Philipp erobert Amphipolis für die Athener?

Dieses Amphipolis, das vormalige Ennea Hodoi (= Neun-Wege, weil es an einem "Verkehrsknoten" lag) gehört mit Philipp ebenfalls kurz vor den Beginn des Krieges, wird aber auch als Schlachtort in Thuk. I, 100 erwähnt:

An den Strymon nach Thrakien aber schickten sie zu derselben Zeit (hier ist der Abfall der Insel Thasos von Athen berichtet worden, auf den ich weiter unten zurückkomme) zehntausend Kolonisten, teils Athener, teils Verbündete, um dort die Gegend zu besiedeln, die damals Neun-Wege (= Ennea Hodoi) hieß, das heutige Amphipolis. Die Kolonisten bemächtigten sich auch dieser Neun-Wege - damals von Edonern bewohnt -; als sie aber ins thrakische Binnenland vorrückten, wurden sie bei dem edonischen Orte Drabeskos von dem gesamten thrakischen Volksheer niedergemacht, weil die Thraker sich durch die Besiedlung jener Gegend bedroht fühlten.

Durch eine mysteriöse Rechenkonstruktion ist ein Transfer der Niederlage der Athener gegen die Thraker bei Drabeskos in die Pentekontaëtie gelungen, und zwar in das konventionelle Jahr 464 v.Chr., in dem auch das Erdbeben von Sparta und der Beginn des 3. Messenischen Krieges untergebracht wurden, ins erste Jahr des "langen" Peloponnesischen Krieges (692 ndFl) mithin, in dem auch eine Sonnenfinsternis stattfand. Das entsprechende Kapitel im "Polemos" (Thuk. IV, 102) beginnt mit einem Anachronismus:

In demselben Winter (gemeint ist konv. 424/3 v.Chr.; richtig aber müsste es heißen 432/1 v.Chr. analog 692/3 ndFl; die Erklärung dafür folgt weiter unten in diesem Kapitel) zog Brasidas mit den thrakischen Verbündeten gegen Amphipolis, die am Strymon gelegene athenische Pflanzstadt. An dem Platze, wo heute die Stadt steht, hatte früher schon Aristagoras von Milet, als ihn Dareios verbannt hatte, eine Ansiedlung gründen wollen, war aber von den Edonern vertrieben worden. Auf Brasidas komme ich noch ausführlich zurück.

Aristagoras von Milet wird erst in einigen Jahren, und zwar im zweiten Teil des Peloponnesischen Krieges, dem so genannten Dekeleïsch-ionischen Krieg, der konventionell 414-404 v.Chr. angesetzt wird, seinen Auftritt haben. Dieser Krieg unter Darius II ist identisch mit dem Ionieraufstand unter Darius I, der um 500-494 v.Chr. (Fall Milets) datiert wird. Aristagoras wollte seine Kolonie nicht an derselben Stelle gründen, an der "später" Amphipolis lag, sondern er wollte nach Myrkinos ziehen, einer Stadt der thrakischen Völkerschaft der Edoner, die ganz in der Nähe von Amphipolis lag (Thuk. IV, 107). Das konnten die Edoner jedoch verhindern, und im selben Jahr (konv. 497 v.Chr.) ist Aristagoras gefallen. Das gehört aber erst in die Zeit nach 700 ndFl.

Thuk. IV, 102 fährt dann fort: Zweiunddreißig Jahre später hatten dann die Athener zehntausend Ansiedler ... dorthin ausgesandt, die aber von den Thrakern bei Drabeskos vernichtet wurden (vgl. Thuk. I, 100)... neunundzwanzig Jahre später, kamen die Athener noch einmal - Führer war Hagnon, Sohn des Nikias -, jagten die Edoner von dannen und besiedelten jenen Platz, der vordem Neun-Wege hieß.

Die pentekontaëtie-freundliche Rechnung ergibt, ausgehend von der Niederlage des Aristagoras gegen die Edoner im Jahre (konv.) 497 v.Chr., dass im Jahre (konv.) 465/464 v.Chr., in dem auch das Erdbeben und der Helotenaufstand stattfinden, die Athener bei Drabeskos geschlagen werden, und dass im Jahre (konv. 465/4 ./. 29 =) 436/435 v.Chr. Hagnon erneut athenische Ansiedler nach Amphipolis führt, das bis dahin Ennea Hodoi (= Neun-Wege) hieß. Es ist aber dieser letzte Vorgang in Wirklichkeit der erste; denn das konventionelle Jahr 436/5 v.Chr. entspricht dem Jahr 688/689 ndFl. Das gefiel den (Mak-?)Edonern natürlich ebenso wenig wie Philipp. Krieg lag in der Luft! Und den gab es dann ja auch.  

Infolgedessen ist die obige Rechnung als Konstrukt eines Kopisten zu betrachten; denn die Niederlage der Athener bei Drabeskos, die nicht Bestandteil des Peloponnesischen Krieges war, gehört mitsamt dem Erdbeben und dem Aufstand der Heloten in das Jahr 692 ndFl (konv. 432 v.Chr.; erstes Jahr des "langen" Krieges), und der Tod des Aristagoras liegt noch viel später statt früher.

In Thuk. I, 100 kommt es zusätzlich noch zu einem Anachronismus, indem der ägyptische Aufstand unter Inaros, dem Sohn des Psammetichos (= Amasis), der erst im Jahre 720 ndFl stattfinden wird, schon in die Ereignisse eingeschoben wird, die ganz zweifellos an den Anfang des Peloponnesischen Krieges gehören.

Wir werden uns jetzt die einzelnen Kriegsjahre nacheinander ansehen:

Das Jahr 692 ndFl

692 ndFl war das Jahr, in dem die Peisistratiden aus ihrem zehnjährigen Exil auf Euböa nach Athen zurückkehrten, und zwar meiner Meinung nach erst gegen Ende des Sommers oder sogar erst im Spätherbst. Vorher hatte es die Versuche der Opposition in Athen gegeben, die Demokratie einzuführen: Kleisthenes = Demosthenes. Dessen Gegenspieler Isagoras = (I)Sokrates war von den Spartanern unter Kleomenes unterstützt worden. Die Rückkehr der Peisistratiden machte alle Demokratiegedanken gegenstandslos. Über dies alles wurde im vorangegangenen Teilkapitel (Das Erste Buch im Polemos, Teil 2) ausführlich abgehandelt (vgl. Herodot I, 61 ff.).

Wir werden sehen, dass im Zweiten Buch des "Polemos" solche Ereignisse, die angeblich ins erste Jahr des "kurzen" Krieges (693 ndFl) gehören sollen, die aber bereits ins erste Jahr des "langen" Krieges gehören (692 ndFl), mit solchen aus dem zweiten Jahr vermischt wurden. Das gilt schon für die angeblich ersten militärischen Aktionen in diesem Krieg:

(Thuk. II, 18) Während die Rüstungen in Athen so weit gediehen waren, rückte das Heer der Peloponnesier vor und gelangte an die attische Grenze. Der erste Ort war Oinoë (geschrieben auch Önoe; Ort in Attika an der Grenze zu Böotien am Kithairon-Gebirge gelegen); dort sollte der Einfall erfolgen. Wir erinnern uns:

(Herodot V, 74) Er (Kleomenes) fiel also mit einem großen Heere in Eleusis ins Land, und die Boioter eroberten der Verabredung gemäß die Grenzdörfer Attikas Oinoë und Hysiä. Auf der anderen Seite griffen die Chalkidier an und verwüsteten die attischen Felder.

Herodot kannte den Peloponnesischen Krieg und wusste, dass dieser schon längst erledigt war, als der Perserkrieg, an dem er wahrscheinlich selbst teilgenommen hat, im Jahre 728 ndFl begann. Ich bin sicher, dass es nicht die Peloponnesier waren, wie der "Polemos" sagt, der zweifellos dasselbe Ereignis meint wie Herodot. Die Peloponnesier wären nicht quasi "von hinten" in Attika eingefallen. Es waren die Chalkidier und die Böotier, die über die Ostgrenze in Attika einfielen.

Das geht auch aus dem weiteren Text bei Herodot hervor:

Die Athener, von mehreren Seiten bedrängt, beschlossen, sich gegen die Boioter und Chalkidier erst später zu wenden, und zogen den Peloponnesiern nach Eleusis entgegen.

Dort, bei Eleusis, standen die Peloponnesier. Wie ich an anderer Stelle schon sagte, wäre es militärisch unverantwortlich gewesen, die Boioter und Chalkidier sich selbst zu überlassen. Ich sehe deshalb den Einfall der Peloponnesier (überwiegend der Spartaner unter Demaratos) schon im Jahre 692 ndFl im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Rückkehr der Peisistratiden und mit der Niederwerfung des demokratischen Umsturzes des Kleisthenes-Demosthenes in Athen. Die Auflösung der bei Eleusis versammelten Verbündeten spricht nicht für einen regelrechten Krieg; sie kann aber auch nicht mit der inzwischen erfolgten Rückkehr der Peisistratiden zusammenhängen; denn die kamen erst am Ende des Jahres (Spätsommer oder Herbst) zurück in ihre Stadt. Der unerwartete Rückzug der Spartaner muss offenbar andere Ursachen gehabt haben.

Die von mir angesprochene Vermischung besteht darin, dass der Aufmarsch der Böotier und Chalkidier an der Grenze zu Attika erst ins folgende erste Jahr des "kurzen" Krieges gehört. Dort werde ich wieder darauf zurückkommen. Der andere Teil gehört in dieses Jahr 692 ndFl, in welchem der Spartanerkönig Demaratos von seinem Mitkönig Kleomenes abgesetzt wurde.

Vermutlich folgte auf Demaratos zunächst sein angeheirateter Onkel Leotychides der Ältere, nach dessen möglichem frühen Tod sein angeheirateter Vetter Archidamos folgte, der Schwiegersohn des Leotychides.

Ich halte es für verfrüht, schon hiermit den für das Jahr (konv.) 227 v.Chr. vermerkten "Staatsstreich des Kleomenes III" in Verbindung zu bringen (siehe dazu Bengtson, Seite 394); der hat noch einige Jahre Zeit.

Abstammung der derzeitigen Könige Spartas
Eurypontiden                              Agiaden
Hegesikles = Hegesilaos                   Menares-Menelaos
| oo Tochter Demaratos' d.Ält. "Corintus" |
|                                         |
+---------+          +--------------------+
Ariston   Tochter oo Leotychides d.Ält.   Leon
|         |          (wird durch diese    |
|         |          Heirat zum Eurypon-  |
|         |          tiden)               |
|         |                               |
|         Lampito oo Archidamos           Anaxandrides
|                    |                    |
Demaratos d.J.       Agis                 Kleomenes
                     |
                     Leotychides d.J.


Die Athener erinnern sich während der Bedrohung durch die Peloponnesier bei Eleusis an einen spartanischen König, der noch gar nicht geboren ist:

(Thuk. II, 21) In Athen hatte man, solange das Heer nur in Eleusis und der thriasischen Ebene war, noch eine gewisse Hoffnung, sie würden nicht weiter vorrücken. Man erinnerte sich an den lakedaimonischen König Pleistoanax, Sohn des Pausanias, der bei dem Einfall des peloponnesischen Heeres in Attika vierzehn Jahre vor dem Kriege auch nur bis Eleusis und zur thriasischen Ebene gekommen und dann umgekehrt war, dann freilich auch aus Sparta verbannt worden war, weil er durch Bestechungsgelder zur Umkehr bewogen worden sein sollte.

Das kennen wir doch; auch hier handelt es sich um eine Vermischung; denn das obige gehört ins Jahr 692 ndFl und betrifft Demaratos, der für diesen Fehler ebenfalls zu büßen hatte, nämlich mit dem Verlust seiner Mitkönigschaft in Sparta. Der "Polemos" meint dasselbe Ereignis, das auch Herodot anspricht. Hineingemischt wurden im "Polemos" die Namen Pleistoanax und Pausanias, die in eine spätere Zeit gehören.

Pleistoanax, angeblich (konv.) 458-445 v.Chr. König von Sparta (das wäre genau bis zum Abschluss des 30jährigen Friedens gewesen, der jetzt gebrochen wurde), gilt als Zeitgenosse des Nikomedes, des Sohnes des Kleombrotos, der die Interessen des angeblich "noch zu jungen Pleistoanax, des angeblichen (?) Sohnes des Pausanias", vertrat (Thuk. I, 107). Wie geriet dieser noch gar nicht geborene Sohn eines angeblichen Sohnes des Kleombrotos an diese Stelle? Natürlich einmal mehr durch den Timetunnel Pentekontaëtie:

Thuk. I, 112 berichtet von Kimon d.Jüng., und zwar zeitgerecht im Zusammenhang mit dem Amyrtaios-Aufstand in Ägypten. Es wird der Tod des jüngeren Kimon erwähnt, der sich von dem Tod des älteren deutlich unterscheidet. Dies alles gehört in die Zeit kurz vor dem Perserkrieg, in der die Namen Pleistoanax und Pausanias am rechten Platz stehen. Dann aber heißt es weiter:

Darauf führten die Lakedaimonier den so genannten Heiligen Krieg; sie bemächtigten sich des Heiligtums in Delphi und gaben es an die Delphier zurück. Als sie aber abgezogen waren, kamen die Athener, nahmen das Heiligtum den Delphiern ab und gaben es wieder an die Phoker.

Das sind Ereignisse, die an anderer Stelle schon besprochen wurden und die wir mit den Jahren unmittelbar vor dem Peloponnesischen Krieg verbunden haben. Im Anschluss daran - auch das hatten wir schon besprochen - fanden die unterschiedlichen Begegnungen mit Philipp (I statt II) statt, die schließlich in der Schlacht bei Chaironeia mit der Niederlage der Athener gegen Philipp und dem Frieden des Philokrates endeten (691 ndFl).

Von einem Philokrates, dem Sohn des Ephialtes, einem Flottenbefehlshaber, ist in den Hellenika (IV 8, 24) erst wieder nach dem Peloponnesischen Krieg die Rede. Daher ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es sich bei diesem Friedens-Philokrates um den Philosophen (I)Sokrates handelt, der zu der athenischen Partei Pro-Philipp gehört, was übrigens am Ende dieses Krieges zur Verurteilung des Sokrates nicht als Verführers der Jugend, sondern wegen seiner propersischen Gesinnung geführt haben könnte. Auch im "Polemos" taucht ein weiterer (?) Philokrates auf als Sohn des Demeas (Thuk. V, 116) und als athenischer Feldherr (Winter 416/415 v.Chr.). Von seinem angeblichen (?) Vater ist weiter nichts bekannt.

Die Schlacht bei Chaironeia ist auch im folgenden Text gemeint (Thuk. I, 113):

Es verging einige Zeit, und die Athener unternahmen einen Zug gegen Orchomenos, Chäronea (auch Chaironeia geschrieben) und die übrigen böotischen Plätze, an denen die aus Böotien Verbannten sich festgesetzt hatten und die infolgedessen als feindselig galten. Das Heer bestand aus tausend athenischen Hopliten und den entsprechenden Aufgeboten der Verbündeten (athenischer Bundesgenossenkrieg!); die Führung hatte Tolmides, Sohn des Tolmaios. Chäronea eroberten sie, machten die Bewohner zu Sklaven und zogen unter Zurücklassung einer Besatzung weiter. Auf dem Marsche, bei Koroneia, wurden sie von den böotischen Verbannten aus Orchomenos, von den mit ihnen vereinigten Lokrern, ferner von euböischen Verbannten und allen, die zu derselben politischen Partei gehörten, angegriffen. Die Athener verloren die Schlacht und wurden teils niedergemacht, teils gefangen genommen. Um die Gefangenen zurückzuerhalten, musste Athen einen Vertrag eingehen, nach welchem es ganz Böotien wieder verlor. Die böotischen Verbannten kehrten zurück, und alle übrigen erlangten ihre Unabhängigkeit wieder.

Diese Wiedergabe des Heiligen amphiktyonischen und des mit ihm parallel verlaufenden Athenischen Bundesgenossenkrieges weicht teilweise erheblich von den im Zusammenhang mit Philipp gemachten Angaben ab. So könnte der Phoker Onomarchos, mit dem Philipp zu tun hatte, im "Polemos" zum Beispiel zu Orchomenos mutiert sein, was auf ein veritables Missverständnis des "Polemos"-Autors zurückgeführt werden könnte. Die entscheidende Schlacht, in der die Athener besiegt wurden, hätte auch nicht bei Chäronea, sondern bei Koroneia stattgefunden. Ich bin ohnehin versucht, diese beiden Namen als unterschiedliche Lesarten ein und desselben Ortsnamens anzusehen. Es ist nicht zu übersehen, dass es sich hier um die Ereignisse aus den Jahren 689-691 ndFl handelt, die wir unter Philipp bereits besprochen haben. Der athenische Anführer bei Chaironeia, der bei Philipp nicht erwähnt wird, könnte Tolmides geheißen haben. 

Anders als bei Herodot (V, 74) liegen die Verhältnisse bei den in Thuk. I, 114 (Euböa und Megara fallen von Athen ab) geschilderten Ereignissen:

... Die Peloponnesier machten auch wirklich unter Führung des lakedaimonischen Königs Pleistoanax, Sohnes des Pausanias, einen Einfall in Attika und verwüsteten die Gegend von Eleusis und die thriasische Ebene; weiter kamen sie jedoch nicht und kehrten wieder heim.

Aber hier sind die Namen Pleistoanax und Pausanias absolut fehl am Platze. Diese Schilderung vereint zwei Begebenheiten zu einer einzigen: Peisistratos (nicht Perikles!) erobert Euböa für Athen, angeblich vierzehn Jahre vor Beginn des Peloponnesischen Krieges. Zwischendurch erschreckt er mal eben die Spartaner bei Eleusis. Die kommen aber erst dreizehn Jahre später hierher, und zwar nicht unter Pleistoanax, sondern unter Demaratos. Daraus ist schon zu ersehen, dass die tatsächlichen Verhältnisse anders lagen.

Der merkwürdige Zug der Spartaner (und ihrer Verbündeten?) in die eleusische Ebene, der so unvermittelt abgebrochen und zum Anlass für die Absetzung des Demaratos wird, ist nur der Versuch, die Einführung der Demokratie in Athen zu unterbinden.

Noch vor den weiter oben besprochenen Ereignissen um die athenische Pflanzstadt Amphipolis ist in Thuk. I, 100 von einer anderen Begebenheit die Rede, die ebenfalls in dieses Jahr, und zwar eindeutig vor den Kriegsbeginn, gehört:

... Einige Zeit später (nach dem Sieg des Atheners Kimon am Eurymedonfluss in Pamphylien) geschah der Abfall der Thasier (die Bewohner der Insel Thasos vor der thrakischen Küste), die wegen ihrer Handelsplätze und der von ihnen betriebenen Bergwerke im gegenüberliegenden Thrakien mit Athen in Streit geraten waren. Die Athener erschienen mit einer Flotte vor Thasos, siegten in einer Seeschlacht und stiegen ans Land.

In Thuk. I, 101 folgt dann der Krieg der Athener gegen die Thasier. Sie mussten sich nach dreijähriger Belagerung den Athenern ergeben. Auch das erinnert an Poteidaia, das sich nicht weit von diesem Kriegsschauplatz befindet. Die Thasier müssen ebenfalls ihre Mauern schleifen, außerdem die Schiffe ausliefern und ihren Besitz an den Bergwerken den Athenern abtreten, was natürlich der eigentliche Grund für diese gewesen war, sich für Thasos zu interessieren.

Hier scheint mir am ehesten der tatsächliche Anlass zum Peloponnesischen Krieg zu suchen zu sein; denn der "Polemos" berichtet von einem Hilferuf der Thasier an die Lakedaimonier; sie, die von den Athenern Belagerten, bitten - übrigens wie auch die Poteidaier schon getan hatten - um den Einfall der Lakedaimonier in Attika, damit die Athener von ihnen abrückten. Diesem Ersuchen wollen die Lakedaimonier sogar stattgeben:

(Thuk.I, 101) ... Die Lakedaimonier erklärten sich, ohne dass die Athener etwas merkten, dazu bereit und wollten schon an die Ausführung gehen; da wurden sie durch ein Erdbeben zurückgehalten, währenddessen die spartanischen Heloten und die Periöken von Thuria und Äthäa einen Aufstand machten und den Berg Ithome besetzten.

Dieser Helotenaufstand ist der Beginn des 3. Messenischen Krieges, der (konv.) 464 v.Chr. im Zusammenhang mit dem Zug des Kimon auf die thrakische Chersonesos (konv. 465 v.Chr) gesehen wird. Der Messenische Krieg hat auch (konv.) 425/424 und 370/369 v.Chr. seine Plätze. Ich war in einem vorangegangenen Kapitel schon ausführlich auf diesen Aufstand eingegangen.

Der Anstoß zum Krieg nimmt konkretere Formen an, wenn es zum Bruch der Lakedaimonier mit den Athenern kommt, die den mit ihnen durch den dreißigjährigen Vertrag verbündeten Spartanern am Ithome-Berg gegen die aufständischen Messenier beistehen. Ihr Anführer ist Kimon der Ältere, der Bruder des Miltiades, also Charidemos, der Bruder des Chares, der im Vorjahr auf der Chersonesos gewesen sein soll (konv. 465 v.Chr. analog 691 ndFl). Ich vermute, dass er  schon im Jahre 687 ndFl die Schlacht am Eurymedon-Fluss geschlagen hat (Thuk. I, 100), die angeblich allerdings in Pamphylien (in Kleinasien) stattgefunden haben soll, die aber glaubhafter im Zusammenhang mit Samos zu platzieren wäre.

Die beiden Heere der noch verbündeten Athener und Lakedaimonier, die den Ithomeberg belagerten, konnten sich über das weitere Vorgehen nicht einigen. Hierbei spielte die Furcht der Lakedaimonier vor der "neuerungssüchtigen Sinnesart der Athener" eine Rolle, womit gewiss die Demokratiebewegung und die Heeresreformen des Iphikrates sowie seine Peltasten gemeint sein dürften, die damit konventionell in eine Zeit lange vor dessen Heeresreform (konv. 4. Jhdt. v.Chr.) eingeordnet werden, nämlich in die Jahre (konv.) 464-460 v.Chr. etwa.

Die Lakedaimonier fürchten, die Athener möchten sich mit den Heloten bzw. Messeniern zusammentun, und bitten die Athener unter einem fadenscheinigen Grunde, wieder nach Hause zu ziehen. Verärgert über diese Behandlung lösen die Athener den gegen die Perser geschlossenen Bündnisvertrag mit Sparta und verbünden sich mit dessen Feindin Argos, und gemeinsam mit Argos schließen sie ein Bündnis mit den Thessalern.

Die Athener hatten offensichtlich tatsächlich nichts von der Hilfsbereitschaft der Spartaner gegenüber den Thasiern bemerkt, da sie ihnen sonst kaum danach noch bei Ithome geholfen hätten - oder es kam in Wirklichkeit wegen Thasos jetzt zum Bruch!

Aber da haben wir beides: die Kündigung des seit vierzehn Jahren bestehenden Vertrages und die Verbindung zu Philipp von Thessalien. Das Bündnis mit Argos kann auf einem Missverständnis beruhen: der thessalische Tetrarch oder Tagos Philipp war ein Argeier! Besagter Vertrag wurde bekanntlich nicht gegen die Perser geschlossen, sondern nach der Eroberung Euböas, und zwar vorgesehen auf dreißig Jahre. Im Jahre (konv.) 432 v.Chr. wurde er (im vierzehnten Jahr) schon gebrochen, aber erst im fünfzehnten Jahr (693 ndFl) fiel Archidamos in Attika ein, als Peisistratos schon wieder in der Stadt war. Daher war das Bündnis mit Philipp möglich, während das mit Perdikkas offenbar nicht mehr bestand. Das scheint auch im Jahre 693 ndFl noch so zu sein, und Sitalkes wird bald zwischen ihm und den Athenern vermitteln, bis er wieder deren Verbündeter ist, nämlich in der Zeit der vorübergehenden Absetzung des (Perikles-)Peisistratos.

In Thuk. II, 23 wird berichtet, dass Athen angeblich im ersten Jahr des "kurzen" Krieges einen Angriff mit hundert Schiffen auf die Peloponnes plant, während die Peloponnesier noch plündernd durch Attika ziehen. Eigenartigerweise begeben sich die Athener, anstatt auf dem Lande die Peloponnesier zu bekämpfen, die ihre Felder verwüsten, jetzt aufs Wasser; das lässt vermuten, dass es sich hierbei gar nicht um Ereignisse aus dem Jahr 693 ndFl, sondern um solche aus dem Vorjahr handelt. Dieser Zug hing meines Erachtens mit der Kündigung des Vertrages zusammen. Diese Seefahrt wäre somit die erste kriegerische Handlung der Athener im Peloponnesischen Krieg gewesen, wenn man die Ereignisse um Thasos vor diesem Krieg ansetzten möchte, was ich für richtig halte.

Außerdem wäre es, wenn der konventionellen Darstellung der Seereise gefolgt würde, mit einigen Problemen verbunden gewesen, zu den Häfen zu gelangen. Falls nämlich die Thebaner bzw. Boioter und Peloponnesier schon in diesem Jahr Attika durchstreifen sollten, wie es im "Polemos" für das erste Kriegsjahr dargestellt wird, und falls die langen Mauern von Athen nach Phaliron und zum Piräus noch nicht gestanden hätten, dann wären die Truppen ungeschützt zu den Schiffen gelangt, während die Lakedaimonier die Gegend unsicher machten. Da die Seefahrer jedoch schon im Jahre 692 ndFl von Athen aufbrachen, entfällt das Problem mit den schutzlosen Truppen. Die Boioter und Chalkidier kommen erst im nächsten Jahr.

Überliefert wird, dass die Athener nun die hundert Schiffe mit 1000 Hopliten und 400 Bogenschützen ausrüsten, die die Peloponnes umfahren sollen, wie schon beabsichtigt. Auch diese Absicht und der Hinweis auf den längst geplanten Bau dieser Schiffe, der nun offenbar abgeschlossen war, lassen den Verdacht aufkommen, es handele sich um eine Aktion aus dem Vorjahr, also dem in Rede stehenden Jahr 692 ndFl. In der Tat kann dieser Aufbruch zur Peloponnes-Umsegelung der Auftakt der Kriegshandlungen sein.

Die Führung hatten Karkinos, Sohn des Xenotimos, Proteas, Sohn des Epikles, und Sokrates, Sohn des Antigenes. Ob dieser Sokrates mit Isokrates-Isagoras zu identifizieren ist, hat außer der Versuchung, dies zu tun, nichts für sich. Jedenfalls ist seine Anwesenheit und Tätigkeit unter den derzeit noch nicht wieder in Athen herrschenden Peisistratiden (Sommer 692 ndFl) verwunderlich, wenn er mit Isagoras, dem Sohn des Teisandros, identisch sein sollte. Anders lautende Vaternamen sind für Identifizierungen prinzipiell keine Hinderungsgründe, da einmal die Väter selbst unterschiedliche Namen gehabt haben können, zum anderen aber auch die Namen älterer Vorfahren als Vaternamen auftauchen können (wie im Falle des Thukydides zum Beispiel!). Selbst in dem Fall, dass der hier genannte Sokrates nicht mit Isokrates-Isagoras identisch sein sollte, könnte es sich chronologisch gesehen bei ihm dennoch um den berühmten Philosophen handeln.

Wir sollten nicht davon ausgehen, dass uns die Vita des Sokrates von antiken Autoren umfassend und einwandfrei geschildert worden ist. Dazu haben wir nach allen schlechten Erfahrungen mit antiken Autoren und Redakteuren nicht mehr die geringste Veranlassung.

Bei Methone in Lakonien verließen die Athener die Schiffe, um die Stadt zu berennen (Thuk. II, 25), und zufällig soll sich eine Besatzungstruppe unter dem Spartiaten Brasidas, dem Sohn des Tellis, in der Gegend aufgehalten haben, der die Stadt rettete und dafür später öffentliches Lob erntete. Hier ist eine Denkpause angebracht; denn es könnte sich bei Methone um die Stadt unweit Pydna in Makedonien handeln, die Philipp (II konv.) 354 v.Chr. erobert hat. Das führt uns aber direkt wieder zu den Ereignissen um Poteidaia, worüber schon an anderer Stelle ausführlich abgehandelt wurde.

Es handelt sich hierbei um Ereignisse am Beginn des Peloponnesischen Krieges. Verdächtig ist (Thuk. II, 25) besonders die Erwähnung des Brasidas, der im Jahr 424 v.Chr. analog 700 ndFl, auf die Chalkidike marschiert und zwei Jahre später - wie sein athenischer Gegenspieler Kleon - bei Amphipolis fällt. War das wirklich so?

Wie der Leser schon ganz richtig vermutet, gehört dieser Marsch des Brasidas auf die Chalkidike in das erste Jahr des "langen" Krieges, in welchem auch die athenischen Seefahrer zu ihrer Peloponnes-Rundfahrt starteten und in dem die einzige Sonnenfinsternis dieses Kriegs stattfand. Auf Brasidas komme ich wieder zurück. Auf die Rückkehr dieser Schiffe und deren Weiterfahrt zur Chalkidike war ich schon an anderer Stelle eingegangen.

Doch zurück zu Thuk. I, 114 (Peloponnesier verwüsten Eleusis und die thriasische Ebene); der obige Text fährt fort mit einem ganz anderen Thema, das aber das eigentliche in diesem Vers ist, nämlich mit Euböa. Der Satz mit dem Einfall der Peloponnesier ist nur dazwischen geschoben. Thuk. I, 114 beginnt auch mit Euböa:

(Thuk. I, 114) Darauf - nur kurze Zeit später - fiel Euböa von Athen ab. Schon war Perikles (doch wohl Peisistratos) mit einem athenischen Heer nach Euböa übergesetzt, da wurde ihm gemeldet, dass auch Megara abgefallen sei, dass die Lakedaimonier im Begriff ständen, in Attika einzufallen, und dass die athenische Besatzung bereits von den Megarern niedergemacht worden sei, mit Ausnahme eines Teiles, der sich nach Nisäa geflüchtet habe. Die Megarer hätten bei ihrem Abfall auch die Korinther, die Sikyonier und die Epidaurer auf ihre Seite gezogen. Perikles führte nun das Heer schleunigst aus Euböa zurück...

Es folgt der Einschub (Einfall der Peloponnesier unter Pleistoanax), danach fährt der Vers 114 fort:

...Da setzten die Athener unter Perikles erneut nach Euböa über und unterwarfen sich die ganze Insel.  Die Verhältnisse in den Städten ordneten sie durch Verträge, nur die Hestiäer (Großgrundbesitzer) mussten auswandern, und die Athener nahmen ihr Gebiet in Besitz.

Die hier gemeinte Abfall Euböas gehört ins Jahr 682 ndFl, in welchem die Peisistratiden dann auch noch ins Exil auf Euböa gingen. Folglich ist der Anschluss Thuk. I, 115  ein Anachronismus:

Nach der Rückkehr aus Euböa wurde dann bald der dreißigjährige Vertrag mit den Lakedaimoniern und ihren Verbündeten geschlossen. Die Athener mussten Nisäa, Pagä, Troizen und Achaia herausgeben; diese Orte hatten sie den Lakedaimoniern genommen. 

Die hier vom "Polemos" gemeinten Ereignisse mit Euböa lagen weiter zurück (679 ndFl); denn sechs Jahre danach brach der Krieg aus zwischen Samos und Milet um Priene (685 ndFl, im ersten Jahr des Polykrates).

Das sind überwiegend Ereignisse aus dem Ersten Buch des "Polemos", die demnach noch vor dem Peloponnesischen Krieg in der "fiktiven Pentekontaëtie" liegen. Sie wurden offensichtlich mit Ereignissen aus der Anfangszeit dieses Krieges vermischt, die Namen aber wurden vertauscht, damit deren Träger in die Zeit nach dem Perserkrieg passen. Man bemühte sich, durch Hineinziehen von Ereignissen, die nach dem Perserkrieg erst geschahen, in die Anfangsphase des Peloponnesischen Krieges hinein, das Phantom der Pentekontaëtie zu blähen und die Reihenfolge der beiden Kriege zu vertauschen. Über den Sinn dieser Aktion kann spekuliert werden.

Die hier gemeinten Ereignisse um Megara, das schon seit 689 ndFl dem von Demosthenes gegründeten Hellenischen Bund angehörte, gehören in das in Rede stehende Jahr 692 ndFl. Es sieht so aus, als gehöre auch das unter 424 v.Chr. zu Megara Gesagte noch in dieses frühe Jahr (nicht aber die Ereignisse mit den Verbannten aus Lesbos und die um Kythera sowie auf Sizilien, worüber ebenfalls in jenem Kapitel berichtet wird).

Eventuelle Bedenken, die Ereignisse um Megara aus dem Jahr (konv.) 424 v.Chr. ins erste Jahr des "langen" Krieges (konv. 432 v.Chr. analog 692 ndFl) zu verlegen, können leicht zerstreut werden, wie ich zu Beginn dieses Teilkapitels gezeigt habe: In beiden Jahren gab es angeblich eine Sonnenfinsternis, die in Griechenland sichtbar war. Das hatte ich als unwahrscheinlich bezeichnet und deshalb die Ereignisse des Jahres (konv.) 424 v.Chr. teilweise als in das in Rede stehende Jahr 692 ndFl gehörend aufgefasst.

Der Abfall von Megara führte zunächst dazu, dass die Athener Megara von der See absperrten (Megarisches Psephisma). Dieser Komplex gehört vor den Kriegsbeginn und vor die Rückkehr der Peisistratiden. Das militärische Eingreifen Athens gegen Megara lag dagegen nach dem Kriegsbeginn, aber auch noch vor der Rückkehr der Peisistratiden. Der Zeitpunkt lag deshalb schon in der Kriegsphase, da die hundert Schiffe der Athener, die diese nach der Kündigung des Vertrages mit Sparta auf den Weg gebracht hatten, auf dem Heimweg von der Peloponnes-Rundfahrt gerade in Aigina angekommen waren.

Der Hinweis auf die Abwesenheit des Peisistratos während der Bemühungen der Athener um Megara würde zwar auch ins Jahr 700 ndFl (konv. 424 v.Chr.) passen, in dem der Tyrann bereits verstorben ist; aber es liegt auch aus anderen Gründen näher, das laufende Jahr damit zu verbinden; denn die anschließenden Ereignisse, vor allen Dingen die mit Brasidas verbundenen, sprechen unbedingt dafür. Die Abwesenheit der Peisistratiden ergibt sich daraus, dass die Feldherren Hippokrates und Demosthenes-Kleisthenes in der Angelegenheit Megara tätig sind, obwohl sie zu den Alkmeoniden gehörten. Diese wurden nämlich aus der Stadt vertrieben, nachdem die Peisistratiden wieder in Athen waren, und nicht etwa, weil die Bedingungen zum Erhalt des Friedens nicht erfüllt worden wären. Diesen Vertrag hatte es nicht geben, und deshalb war der Krieg auch ausgebrochen.

Im folgenden Winter (angeblich 424/3 v.Chr., gemeint ist jedoch 692/3 ndFl) sollen dieselben Feldherren den Schlag gegen das verfeindete Böotien führen. Wir treffen aber die Herren Kimon und Thukydides zu diesem Zeitpunkt als Heerführer der Athener an, die die Nachfolger der obigen Alkmeoniden als Heerführer geworden sein dürften. Megara muss demnach noch vor Boiotien und Thrakien einsortiert werden. 

Die Geschichte mit Megara soll sich folgendermaßen abgespielt haben:

(Thuk. IV, 66) In demselben Sommer besprach man sich in Megara darüber, dass es eine Notwendigkeit sei, die aus der Stadt verbannte Partei wieder aufzunehmen, damit die Stadt nicht von beiden Seiten gequält werde. Sie wurde nämlich einerseits von den Athenern bedrängt, die Jahr für Jahr zweimal mit dem Heerbann ins Land fielen, anderseits von den megarischen Verbannten in Pagä (einer Nachbarstadt von Megara), die bei den inneren Kämpfen von der Volkspartei aus der Stadt vertrieben worden waren und sich nun durch beständige Räubereien lästig machten. ...

Die jährlichen Überfalle sind ein Anachronismus, da diese sich erst im weiteren Verlauf des Krieges ereignen, wenn sich die Megarer wieder auf die Seite der Peloponnesier gestellt haben. In der falschen zeitlichen Einordnung dieser Überlegungen ins späte Jahr 424 v.Chr. analog 700 ndFl sieht das allerdings anders aus, was uns aber gleichgültig sein kann, da die in Rede stehenden Ereignisse ins Jahr 692 ndFl gehören.

Der Hauptgrund für die "Notwendigkeit" passt sehr gut in diese Phase der aufkommenden Demokratiegedanken. Auch in Megara sehen wir Ansätze für die moderne neue Staatsidee, die von Athen auszugehen scheint; denn die Vertreter der Volkspartei wollen mit den Athenern verhandeln, und auch die Opposition steht hinter diesem Plan, wenn auch notgedrungen:

(Thuk. IV, 66) Die Freunde der verbannten Partei (also die Konservativen in der Stadt), denen die Verständigungsabsichten zu Ohren kamen, traten nun auch ihrerseits offener als bisher für die Sache ein. Allein die Vorsteher des Volkes ... wandten sich ... an die athenischen Feldherren, Hippokrates, Sohn des Ariphron, und Demosthenes, Sohn des Alkistenes. Sie wollten die Stadt den Athenern übergeben und meinten dabei weniger Gefahr zu laufen, als wenn die Verbannten wieder in die Stadt eingelassen würden.

Wie modern dies doch anmutet: Man kooperiert lieber mit gleichgesinnten Feinden als mit innenpolitischen Gegnern. Und die Athener waren Gleichgesinnte in Abwesenheit der Peisistratiden, während die Spartaner eher konservativ waren. Die Athener hätten im Falle der Einnahme der Stadt selbstverständlich nicht die aus Megara vertriebenen Konservativen hereingelassen. 

Bei Hippokrates handelt es sich so gut wie sicher um den Bruder des Demosthenes; denn beide sind Söhne des Alkmeoniden Megakles des Älteren, da Demosthenes mit dessen Sohn Kleisthenes dem Jüngeren identisch ist. Hippokrates ist daher nicht der Sohn des Ariphron, sondern er gibt dessen Sohn Xanthippos seine Tochter Agariste die Jüngere zur Frau, die nachher die Mutter des Perikles wird. Somit sind Hippokrates und Ariphron die Großväter des Perikles. Der Name Alkistenes kann übrigens eine Zusammenziehung der Namen Alkmeon (des Älteren) und Kleisthenes (des Älteren) sein, der Großväter des Demosthenes-Kleisthenes (des Jüngeren).

Die Athener fielen mit dem gesamten Heerbann, Bürger und Metöken, in das Gebiet von Megara ein, das zwischen Athen und dem Isthmus auf halbem Wege nach Korinth liegt. Diese Einfälle sollen die Athener jährlich wiederholt haben, bis ihnen Nisäa, der Hafen von Megara, in die Hände fiel. Metöken waren ständig in Athen ansässige Fremde, die kein offizielles Bürgerrecht besaßen. Ihr Stand war niedriger als der der Vollbürger Athens.

Anführer dieses ersten Megara-Zuges soll Perikles, der Sohn des Xanthippos, gewesen sein, was jedoch nicht vorstellbar ist, da Perikles noch gar nicht geboren ist. Es handelt sich auch hier wieder um den Vater selbst, der das Heer anführt und der ein Schwiegersohn des ebenfalls an dieser Aktion beteiligten Heerführers Hippokrates war und möglicherweise ein Bruder der Xanthippe, der berüchtigten Gattin des Sokrates. Zeitgenossen waren beide auf jeden Fall. Da Xanthippos durch seine Heirat mit der Tochter des Hippokrates zum Alkmaioniden und somit auch zum Verwandten des Demosthenes-Kleisthenes geworden war, so ist sein Einsatz in der Zeit der Anwesenheit der Peisistratiden, die alle Alkmaioniden aus der Stadt gejagt hatten, unakzeptabel. Sein Schwiegervater und dessen Bruder Demosthenes waren die Oberanführer des ersten Zuges der Athener gegen Megara im Jahre 692 ndFl.

Es werden auch Leichtbewaffnete im athenischen Heer aufgezählt, die konventionell jedoch von Iphikrates zu Beginn des vierten vorchristlichen Jahrhunderts eingeführt worden sein sollen, also erst in etwa dreißig Jahren. Iphikrates wurde auch schon im Zusammenhang mit Eurydike genannt, so dass seine Tätigkeit jetzt in der Zeit der Heeresreformen am Ende des siebten nachsintflutlichen Jahrhunderts glaubhaft ist. Ich komme auf ihn zurück.

Die Athener sollen die langen Mauern, die sich von Megara aus acht Stadien weit bis Nisäa hinunterziehen, in Besitz nehmen, damit die Peloponnesier, die außer der Stadt auch den megarischen Hafen Nisäa besetzt halten, von hier aus nicht an die Stadt heranrücken können. Mit einer List gelingt den Athenern das Eindringen in die Stadt und der Überraschungssieg über die Peloponnesier. Die restlichen Besatzer fliehen nach Nisäa, und die Athener, die nur die Mauern einnehmen konnten, beginnen mit der Belagerung.

Ich halte denjenigen Teil, der sich mit den Mauern und Nisäa befasst, für blanken Unsinn. Damit stehe ich übrigens nicht allein da: Der Kommentator meint ebenfalls, der Sinn des Tuns an den Mauern sei nicht ganz klar. Es kann sich möglicherweise um eine spätere Aktion handeln, die in diese eingeflossen ist.

Es handelt sich meines Erachtens auch bei dem Eingreifen des Brasidas in die Angelegenheiten um Megara um die Parteinahme der Spartaner für die aus Megara von der demokratischen Volkspartei vertriebenen Konservativen. Mit dem eigentlichen Peloponnesischen Krieg muss dies noch nichts zu tun haben. Die langen Mauern von Megara und der Hafen Nisäa spielen jetzt auch noch keine Rolle, außer dass sich die Spartaner unter der Führung des Brasidas dieses Hafens bemächtigen und eine Besatzung hier lassen, die von den Athenern nach vergeblichen Versuchen schließlich doch noch vertrieben wird.

Nachdem auch noch die Boioter der Stadt Megara zu Hilfe gekommen waren, war die Sache der Athener aussichtslos. Sie zogen ab, und Brasidas zog als Sieger in Megara ein (Thuk. IV, 73). Anschließend ging er nach Korinth, um den thrakischen Feldzug weiter vorzubereiten, auf den ich weiter unten zurückkommen werde.

Die Megarer aber gaben ihrer Stadt nun eine oligarchische Verfassung, da die Freunde der Athener und damit der Demokratie eines Demosthenes-Kleisthenes ebenso wie dieser selbst entmachtet waren oder kurz davor standen. Am Ende wurden die megarischen Demokraten, obwohl man der Rache abgeschworen hatte, sogar hingerichtet (Thuk. IV, 74).

Wenn meine Behauptung, dass alle drei Sonnenfinsternisse in ein und dasselbe Jahr gehören und demnach nur eine einzige waren, richtig sein sollte, dann müssen die mit Brasidas verbundenen Ereignisse alle im ersten Kriegsjahr, in dem diese einzige Sonnenfinsternis stattfand, ihren Anfang genommen haben und zweieinhalb Jahre später mit dem Tod des Brasidas ihr Ende nehmen. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Ereignisse aus den Jahren (konv.) 424 bis 422 v.Chr. in die Jahre (konv.) 432 bis 430 v.Chr. analog 692 bis 694 ndFl gehören. Es handelt sich dabei um solche, die mit den Herren Brasidas, Perdikkas und Kleon zu tun haben.

Brasidas, der von nun an eine wichtige Rolle spielt, war nicht mehr jung (Ephoros eponymos im zweiten Kriegsjahr), was eine frühere Ansetzung seiner Aktivitäten noch begünstigt, und die gleichzeitige Erwähnung von Perdikkas, Brasidas und Amphipolis (Thuk. IV, 107) passt besser in das erste Jahr des Krieges (692 und 693 ndFl) als ins Jahr 700 ndFl (analog konv. 424 v.Chr.), in welchem Perdikkas mit anderen Problemen beschäftigt sein wird. Auf Brasidas komme ich weiter unten wieder zurück.

Der Zeitpunkt der Aktivitäten der Herren Demosthenes und Hippokrates bei Megara ist demnach zwar nach Kriegsbeginn, aber noch vor der Rückkehr der Peisistratiden anzusetzen.

Erwähnt wird auch, dass die Athener zu dieser Zeit noch ein Heer von dreitausend Mann bei Poteidaia stehen hatten. Das gehört ebenfalls in die Zeit kurz vor der Rückkehr der Peisistratiden.

Das geht auch aus dem weiteren Text hervor:

(Thuk. IV, 76) In demselben Sommer (dem "Polemos" zufolge im achten "Kurzkriegs"jahr 424 v.Chr. analog 700 ndFl, in Wirklichkeit jedoch im ersten Jahr des "langen" Krieges, noch vor der Rückkehr der Peisistratiden 692 ndFl) lief der athenische Feldherr Demosthenes mit vierzig Schiffen in Naupaktos ein, wohin er sich gleich nach dem Rückzug aus dem megarischen Lande gewandt hatte. Mit Hippokrates und Demosthenes nämlich waren von einigen Böotern über die Verhältnisse in den böotischen Städten Verhandlungen angeknüpft worden. Diese Böoter wollten die Verfassung der Städte ändern und eine Demokratie nach athenischem Vorbilde errichten.

Also auch in Böotien (oder Boiotien geschrieben) solche Bestrebungen, obwohl doch hier der mächtige Epaminondas (= Pammenes) als Bundesgenosse des thessalischen Tagos sitzt, des Pelopidas-Philipp, für den er schon als Feldherr den Illyrer-Feldzug geführt oder mitgemacht hat. Das liegt nun einige Jahre zurück, und die große Zeit des Epaminondas ist noch nicht gekommen. Vermutlich auch deshalb konnten sich solche demokratischen Ideen in Theben vorübergehend ausbilden.

Dass die Demokratie geradezu eine Mode geworden war, der man in ganz Hellas Sympathie entgegenbrachte, ist unverkennbar. Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht die Herren Mardonios und Otanes, die - obwohl einem ganz anderen Kulturkreis entstammend - durchaus demokratische Vorstellungen gehabt haben können, wenn uns das bei Chaldäern aus Babylon auch eher befremdlich vorkommt. Allerdings war das Interesse an der Demokratie in Hellas nur bei denen zu erwarten, die sich davon Vorteile versprachen.

Hinter der Demokratie-Bewegung in Boiotien steckte der verbannte Ptoiodoros, der den Plan hatte, Siphä (im Gebiet von Thespiä an der Küste des krisäischen Meerbusens, also am Golf von Korinth auf boiotischem Gebiet) einzunehmen. Ein anderer Teil der Verschworenen, die aus Orchomenos stammten, sollte Chäronea (= Chaironeia) einnehmen, das zu dem vormals minyischen und jetzt boiotischen Orchomenos gehörte.

Dass auch die Athener in die Pläne der Demokraten einbezogen werden, spricht eindeutig dafür, dass die Peisistratiden noch nicht wieder in Athen sind: Die Athener sollen die Stadt Delion (im Südosten Boiotiens) überrumpeln, ein Apollonheiligtum im Gebiet von Tanagra nach der Seite von Euböa zu. Alle drei Überfälle sollten gleichzeitig erfolgen, damit sich die Boioter an drei Fronten wehren müssen. Danach wollten sie Delion zur Festung machen und von hier aus die Verfassungsreform durchsetzen. Hippokrates sollte mit dem Heer gegen die Boioter ausziehen, Demosthenes aber sollte von Naupaktos aus benachbarte Bundesgenossen aktivieren und von See her durch den Golf nach Siphä fahren, das ihm die Verräter in die Hände spielen wollten. Der Tag, an welchem beides erfolgen sollte, war ausgemacht worden.

Als Demosthenes in Naupaktos ankam, stellte er fest, dass die Oiniader (Nachkommen des Oineus von Kalydon in Aitolien, der Nachbarprovinz von Naupaktos) von den Akarnanen, den westlichen Nachbarn der Aitoler, zum Eintritt in den athenischen Bund genötigt worden waren. Zu den athenischen Bundesgenossen zählten u.a der größere Teil der Akarnanen (Thuk. II, 9), wie weiter oben schon gesagt wurde.

Zunächst zog Demosthenes gegen Salynthios und die Agräer, die nördlich von Aitolien wohnten, um von da gegen Siphä vorzugehen. Was weiter geschah, wird zunächst verschwiegen, dafür berichtet der "Polemos" jetzt erst einmal vom Zug des Brasidas nach Thrakien (Thuk. IV, 78 im Winter 692/693 ndFl). Auf Demosthenes und Siphä komme ich weiter unten zurück.

Wir können uns jetzt ausführlicher mit dem Spartiaten Brasidas befassen, den ich schon mehrmals erwähnt habe:

Brasidas, der Sohn des Tellis (auch Tellos geschrieben), war uns schon im Zusammenhang mit der Stadt Methone begegnet, die in Lakonien liegen soll, bei der es sich aber meines Erachtens um das Methone unweit Pydna in Makedonien handelt: Die Athener verließen die Schiffe, um die Stadt zu berennen (Thuk. II, 25), und zufällig soll sich eine Besatzungstruppe unter dem Spartiaten Brasidas, Sohn des Tellis, in der Gegend aufgehalten haben, der die Stadt rettete und dafür später öffentliches Lob erntete. - So lautete weiter oben der Text. Ich hatte meine Zweifel daran angemeldet, dass dieses Methone in Lakonien liege.

(Thuk. IV, 70) Nun weilte der Lakedaimonier Brasidas, der Sohn des Tellis, zu jener Zeit in der Nähe von Sekyon und Korinth, um einen Feldzug nach Thrakien vorzubereiten.

Bei diesem Zug, der noch im Sommer 692 ndFl (und nicht etwa konv. 424 v.Chr. analog 700 ndFl, wie der "Polemos" es darstellt) vorbereitet wurde, als die Peisistratiden noch nicht wieder in Athen waren, handelt es sich um den Zug des Brasidas nach Makedonien, Thrakien, in die Chalkidike und schließlich nach Amphipolis, nachdem er sich mit der Stadt Megara beschäftigt hatte. Der erste Auftritt des Brasidas gehört demnach schon ins Jahr 692 ndFl, das heißt ins erste Jahr des "langen" Krieges.

(Thuk. IV, 78) Um dieselbe Zeit des Sommers (692 ndFl; die Peisistratiden sind noch nicht wieder zurück in Athen) hatte Brasidas mit 1700 Hopliten seinen Zug nach Thrakien angetreten. Als er in Herakleia in Trachis (an der südlichen Grenze Thessaliens nahe den Thermopylen) angelangt war, sandte er einen Boten nach Pharsalos (in Thessalien) voraus an seine Freunde und bat, man möge ihm den Durchzug mit dem Heer gestatten. Da kamen ihm denn Panairos, Doros, Hippolochidas, Torylaos und der chalkidische Proxenos Strophakos bis nach Melitia in (dem nördlichen, nicht in dem peloponnesischen) Achaia entgegen, und nun setzte er seinen Marsch fort. Noch andere Thessalier geleiteten sein Heer, darunter Nikonidos aus Larisa, ein Verwandter des Perdikkas.

Alle diese Namen gehören nicht zu den ganz großen Herren in Thessalien, möglicherweise ist einer von ihnen auch ein Tetrarch. Der Autor meint, dass es für die Spartaner nicht ganz ungefährlich war, durch Thessalien zu ziehen, da "das thessalische Volk in seiner Mehrzahl auf Seiten Athens stand". Damit sind die Beziehungen zwischen den Peisistratiden und Philipp angesprochen. Entsprechend sind die Probleme, die Brasidas mit dieser Gegenpartei hat:

Daher wäre er wohl nicht von der Stelle gekommen, wenn die Verfassung der Thessalier nicht mehr despotisch als demokratisch gewesen wäre.

Hier wird die Existenz einer andersartigen Verfassung als sonst in Hellas üblich angedeutet: die Tetrarchie, während der Hinweis auf die Demokratie fast schon anachronistisch zu nennen ist; denn selbst in Athen hat die Demokratie zu dieser Zeit noch nicht Fuß gefasst. Erste Versuche, sie in Abwesenheit der Peisistratiden einzuführen, waren bekanntlich gescheitert. Allerdings sind demokratische Strömungen auch an anderen Plätzen in Hellas zu beobachten, wie wir schon gesehen haben. Der "Polemos"-Autor fährt fort:

(Thuk. IV, 78) Selbst jetzt traten ihm auf dem Marsche, an dem Enipeusflusse, Vertreter der Gegenpartei entgegen und suchten ihn aufzuhalten.

Dass es mindestens zwei Parteien in Thessalien gab, wurde schon am Beginn des "Polemos" deutlich: (Thuk. II, 21) ... Dass die Thessalier auf Seiten der Athener kämpften, beruhte auf dem alten Bundesverhältnis zwischen ihnen. ... Die Führung (der mit Athen verbündeten Thessalier) hatten Polymedes und Aristonus aus Larissa - für die beiden Parteien im Orte - und Menon aus Pharsalos.

Die eine Partei war spartafreundlich, die andere tendierte mehr zu Athen. Bezeichnend ist, dass - obwohl es sich doch in beiden Texten um ein und dasselbe Jahr handelt, nämlich das erste Kriegsjahr - die Namen der Spartafreunde andere sind als die der Verbündeten der Athener. Das macht die Zweigleisigkeit in der thessalischen Bündnispolitik in der Zeit der Tetrarchie überdeutlich.

Die Einheit Thessaliens, wie sie von Jason geschaffen wurde, steht lediglich noch auf dem Papier! Der Versuch des Lykophron von Pherai, seine Herrschaft nach Jasons Tod auf ganz Thessalien ausdehnen, ist gescheitert. Auch ihm ist die Einigung nicht gelungen. Wenn aber seine Bestrebungen tatsächlich erst in die Zeit der Sonnenfinsternis gehören sollten, dann müssten sie jetzt ihren Anlauf nehmen.

Auf den Bundesvertrag weist auch Thuk. I, 107 hin: Gemäß dem Bundesvertrag stießen auch thessalische Reiter zu den Athenern, die aber während der Schlacht zu den Lakedaimoniern übergingen. In diesem anachronistischen Absatz wird verwaschen auch von einer "beabsichtigten Verfassungsumwälzung" gesprochen. Es handelt sich um die Ereignisse rund um die Schlachten bei Tanagra und Oinophyta (konv. 457 v.Chr.), die aber sehr wahrscheinlich in das Jahr 692 oder spätestens 693 ndFl gehören.

Brasidas beschleunigt sein Marschtempo und gelangt über Pharsalos und Phakion nach Peraibia, wo die thessalischen Führer umkehren. Die Peraiber, Untertanen der Thessaler, führen die Spartaner nach Dion, einer Stadt am Fuße des Olymp, die an der thessalisch-makedonischen Grenze liegt und zum Reich des Perdikkas gehört.

Wie ich schon andeutete, ist die Zeit des Perdikkas auf makedonischem Boden im Jahre (konv.) 424 v.Chr., das dem Jahr 700 ndFl entspräche, längst abgelaufen. Er hat schon den Tod des Kambyses erlebt, dessen Chiliarch er einige Jahre war, und hat bei der Neuordnung des Perserreiches nach dem Tod des Kambyses mitgewirkt. Mit Darius versteht er sich dagegen nicht so gut, obwohl er dessen Heer nach Ägypten führen darf, wo er im Jahre 703 ndFl ermordet werden wird. Deshalb können schon aus diesem Grunde einige der unter Jahr 424 v.Chr. geschilderten Ereignisse aus diesem Jahr herausgenommen werden, so auch die folgenden:

(Thuk. IV, 79) Auf diese Weise hatte Brasidas Thessalien durchquert ... und war bei Perdikkas auf der Chalkidike angelangt. Weil nämlich die Athener vom Kriegsglück so begünstigt wurden, waren die athenischen Bundesgenossen in Thrakien, die sich von Athen losgesagt hatten, und mit ihnen auch Perdikkas, besorgt geworden und hatten deshalb um Entsendung des Heeres aus der Peloponnes gebeten.

Diese Passage erinnert an die Beschreibung der Ereignisse um Poteidaia aus dem ersten Kriegsjahr (692 ndFl), in dem ebenfalls ein Treffen mehrerer Heereseinheiten in dieser Gegend geschildert und auf die wechselnden Positionen des Perdikkas eingegangen wird. In diesen Zusammenhang gehört auch der Auftritt des Brasidas bei Methone, das selbstverständlich nicht in Lakonien liegt. Auf den Wankelmut des Perdikkas, der an einer früheren Stelle schon angesprochen wurde, wird auch an dieser Stelle deutlich hingewiesen:

... und Perdikkas, der ebenfalls nicht offen mit Athen im Kriege lag, fürchtete seinerseits die Folgen seiner früheren Streitigkeiten mit Athen und wollte namentlich auch den König Arrabaios der Lynkester (Lynkos oder Lynkestis, Landschaft in Makedonien) unter seine Oberhoheit bringen.

Die Athener erklärten Perdikkas auf die Nachricht von seiner Kooperation mit Sparta hin zu ihrem Feind (Thuk. IV, 82). Das erinnert ebenfalls an die Verhältnisse im ersten Kriegsjahr, als mittlerweile die Peisistratiden wieder in Athen waren. Das, was in Thuk. II nur kurz angeschnitten wird, kommt jetzt deutlicher zur Sprache:

(Thuk. IV, 83) Perdikkas aber nahm Brasidas und dessen Heer (es bestand gem. Thuk. IV, 78 aus 1700 Hopliten, nach IV, 80 waren darunter 700 Heloten, der Rest waren Söldner) in Empfang und zog sofort mit den vereinigten Streitkräften gegen Arrabaios, den Sohn des Bromeros, den König der makedonischen Lynkester, seinen Nachbarn, mit dem er in Streit lebte und den er unterwerfen wollte.

Diese Absicht erscheint den Lakedaimoniern für ihre eigenen Interessen nicht günstig zu sein. Sie wollen Perdikkas nicht zu stark werden lassen und lieber ein Bündnis mit Arrabaios schließen, der diese Absicht seinerseits schon hatte durchblicken lassen.

Perdikkas aber sagte, er habe Brasidas nicht als Schiedsrichter über seine Streitigkeiten mit Arrabaios kommen lassen, sondern bloß als Kriegsmann gegen die Feinde, die er ihm bezeichnen würde; ... Brasidas verhandelte dennoch, und fortan bestritt der gekränkte Perdikkas nur noch ein Drittel statt der Hälfte des Heeresunterhalts.

Noch in demselben Sommer, angeblich (konv.) 424 v.Chr., in Wirklichkeit jedoch nach allem, was wir bis jetzt herausgefunden haben, im ersten Kriegsjahr (konv. 432 v.Chr. = analog 692 ndFl), kurz vor der Weinlese, traf Brasidas mit seinem durch Chalkidier verstärkten Heer vor Akanthos ein, einer Pflanzstadt der Andrier (Bewohner der Insel Andros nahe der Spitze von Euböa) auf der Chalkidike am strymonischen Meerbusen. Auch hier weist der "Polemos"-Autor auf zwei unterschiedliche Interessensgruppen hin; sie sind sich uneins, ob sie Brasidas einlassen sollen oder nicht.

Am Ende lassen die Akanthier ihn ein, und er hält eine der vielen erfundenen Reden (Thuk. IV, 85). Kurz darauf fällt auch die Nachbarstadt von Akanthos, Stageiros, ebenfalls eine Pflanzstadt der Andrier, von Athen ab. Stageiros oder Stageira war die Heimat des Philosophen Aristoteles, der  im Jahre 710 ndFl  - konv. allerdings 384 v.Chr. - hier geboren werden wird. Stageira soll (konv.) 350 v.Chr. von Philipp II erobert und zerstört worden sein.

Die folgenden Absätze (Thuk. IV, 89-101) gehören tatsächlich in das angegebene Jahr (konv. 424 v.Chr.). Dann aber beginnt wieder der Einschub aus dem ersten Kriegsjahr:

(Thuk. IV, 102) In demselben Winter (statt angeblich konv. 424/423 v.Chr., in Wirklichkeit 692/693 ndFl) zog Brasidas mit den thrakischen Verbündeten gegen Amphipolis, die am Strymon gelegene athenische Pflanzstadt. Es folgt die weiter oben von mir bereits besprochene und richtiggestellte Geschichte dieser von Hagnon gegründeten Stadt. Argilos, eine Nachbarstadt von Amphipolis, öffnet Brasidas ihre Tore und erklärt ihren Abfall von Athen. Die peloponnesischen Truppen plündern das Gebiet um Amphipolis anstatt sofort die Stadt einzunehmen. Auch in Amphipolis treffen wir auf zwei unterschiedliche Interessensgruppen: die einen können gerade noch verhindern, dass die Tore für die Peloponnesier geöffnet werden, wie es von den "Verrätern" geplant war.

(Thuk. IV, 104) Die Gegner des Verrats aber, die in der Überzahl waren, ... schickten im Einverständnis mit dem athenischen Feldherrn Eukles, der sich als Stadtoberster in Amphipolis befand, zu dem zweiten Feldherrn für Thrakien, Thukydides, Sohn des Oloros, dem Verfasser dieses Werkes, der damals bei Thasos war, einer Insel, die von Paros aus besiedelt ist und von Amphipolis zu Schiffe in einem halben Tag erreicht werden kann. Ihn baten sie um Hilfe. Thukydides fuhr eilig mit sieben Schiffen, die eben zur Hand waren, ab, um noch rechtzeitig nach Amphipolis zu gelangen, bevor es sich ergäbe, und wenn nicht, wenigstens Eion rechtzeitig zu besetzen.

Möglicherweise kommt hier jetzt Kimon der Ältere zum Zuge, dessen angeblicher Sieg über die Perser bei Eion am Strymon konventionell erst nach dem Perserkrieg gesehen wird. Das hatte ich weiter oben jedoch schon dahingehend richtiggestellt, dass diese Aktion nicht erst nach dem Perserkrieg stattgefunden haben kann. Kimon hatte kurz zuvor die Athener am Ithome-Berg angeführt, wo es anschließend zum Bruch mit den Spartanern kam. Der Peloponnesische Krieg muss jetzt also schon in vollem Gange sein.

Thuk. I, 100 beginnt - und zwar an dieser Stelle anachronistisch - mit einem Hinweis auf die Schlacht der Athener und ihrer Verbündeten gegen die Perser am Eurymedon-Fluss in Pamphylien zu Wasser und zu Lande, die Kimon, angeblich der Sohn des Miltiades, also der jüngere Kimon, siegreich beendet haben soll; dieser Sieg wird konventionell nach dem Perserkrieg gesehen. Die Schilderung ergibt aber mehr Sinn, wenn es sich um Kimon den Älteren handeln sollte, der am Eurymedon-Fluss (im Vorjahr) möglicherweise die Phönizier besiegte, was eventuell sogar schon zu den Kämpfen bei Samos gehört. Wie schon gesagt, muss die Schlacht nicht unbedingt im südlichen Anatolien stattgefunden haben (Pamphylien lag ziemlich genau in der Mitte der Südküste der heutigen Türkei). Es kann sich um den Sieg über die phönizische Flotte handeln, die von den Samiern zu Hilfe gegen die vereinigten Athener und Spartaner herbeigrufen worden war, nicht jedoch um einen Sieg über die Perser nach deren Niederlage in Hellas.

Kimon hat sich mit Peisistratos versöhnt und kann unter dessen Tyrannis als Heerführer aktiv sein; denn jetzt sind die Peisistratiden mittlerweile wieder in Athen. Seine Beteiligung am Ithome-Berg liegt mit dem Kriegsbeginn noch vor der Rückkehr der Peisistratiden. Kimon hatte sich bekanntlich durch die Überlassung seines Sieges im Viergespann bei den Olympischen Spielen dieses Jahres mit Peisistratos wieder vertragen. Wir erinnern uns (Band 5, Buch IX, 3. Kapitel: Hellas vor dem Peloponnesischen Krieg):

Kimon d.Ält. siegte mit dem Viergespann bei den Pythischen Spielen des Jahres 690 (in diesem Jahr war Peisistratos in Eretria in Verbannung), bei den Olympischen Spielen 692 (in diesem Jahr war Peisistratos wieder nach Athen zurückgekehrt und der Alkmeonide Kimon außerhalb athenischen Gebietes) und 696 ndFl; dieser letzte Sieg des Kimon, den er selbst auch nicht mehr lange überlebte, lag schon nach dem Tode des Peisistratos (im Jahre 695 ndFl). Die zehnjährige letzte Exilzeit des Peisistratos muss im Herbst oder Spätsommer des Jahres 692 ndFl beendet gewesen sein. Andernfalls gäbe es keinen Sinn, weshalb Kimon bei Peisistratos um seine Rückkehr gebuhlt haben sollte, indem er ihm den Sieg mit dem Viergespann dieses Jahres überließ.

Wenn dieser Zug des Kimon in demselben Winter (Thuk. IV, 102), also 692/693 ndFl stattfand, dann können die Alkmeoniden Demosthenes-Kleisthenes und Hippokrates nicht mehr als Feldherren für die Athener tätig sein, da sie seit der Rückkehr des Peisistratos im Exil sein müssten. Die Megara betreffenden Tätigkeiten dieser beiden Brüder lagen im Sommer, bevor die Peisistratiden wieder in Athen waren.

Thukydides war der Sohn des Melesias und ein Urenkel des Oloros. Sein Ostrakismos muss in die demokratische Zeit Athens gehören, also in die Zeit nach den Peisistratiden. Seine Erwähnung in Thuk. I, 117 im gleichen Atemzug mit Hagnon und Phormion, die mit den Samiern kämpfen, wird vom Übersetzer kommentiert mit Nach antiker Erklärung nicht der Verfasser. Das halte ich für einen antiken Irrtum, der aber auch erst in späterer Zeit aufgekommen sein kann. Es hat natürlich nur diesen einen Thukydides gegeben. Zur Erinnerung sei hier noch einmal der Stammbaum des Verfassers der Annalen, die diesem "Polemos" zugrundeliegen, wiedergegeben:

Oloros, König von Thrakien, vermutlich Dolonker
* ca. 585 ndFl
|
Hegesipyle    oo     1. Ehemann
* ca. 615 ndFl       * ca. 600 ndFl
                     |
                     Melesias
                     * ca. 630 ndFl
                     |
                     Thukydides
                     * ca. 662 ndFl
                     (durch Ostrakismos im Jahre konv. 443 v.Chr. verbannt und daher für nicht
                     identisch gehalten mit dem Verfasser der Annalen, der als Sohn des Oloros gilt)



Die Kämpfe mit den Samiern gehören in die Zeit kurz vor dem Peloponnesischen Krieg, wo auch Hagnon und Phormion hingehören. Thukydides wird uns auch in späteren Kapiteln noch begegnen.

Brasidas lag daran, Amphipolis den Athenern abzunehmen. Er fürchtete aber, Thukydides könne wegen seines großen Einflusses in dieser Gegend - er stammte aus dem thrakischen Königsgeschlecht und hatte die hiesigen Goldbergwerke in Pacht - bei der Bevölkerung im Vorteil sein. Er versprach daher dem Volk, jeder Amphipolite und Athener in der Stadt könne, wenn sich die Stadt ihm übergebe, sein Eigentum bei voller Gleichberechtigung behalten. Wolle er das nicht, so könne er mit seiner Habe innerhalb fünf Tagen die Stadt verlassen. Das Volk war einverstanden und ließ Brasidas in die Stadt (Thuk. IV 105, 106).

Thukydides kam noch rechtzeitig in Eion an und konnte die Stadt vor dem Zugriff des Brasidas retten. Er ließ diejenigen aus der Oberstadt Amphipolis, die lieber fortziehen wollten, sich in Eion niederlassen. Ein Landungsversuch in Eion des Brasidas scheiterte zwar (Niederlage gegen Kimon, den Älteren?); aber die Edonerstadt Myrkinos stellte sich auf seine Seite, nachdem ihr König Pittakos von den Söhnen des Goaxis, von dem sonst nichts bekannt ist, und seiner Gemahlin Brauro ermordet worden war. Bald darauf traten auch die Städte Galepsos und Oisyme, Kolonien der Thasier, die in der Nähe lagen, zu Brasidas über.

Dabei wirkten nicht nur die Thasier mit, sondern auch der gleich nach der Einnahme von Amphipolis hier eingetroffene Perdikkas (Thuk. IV, 107), der dies nur als Gegner der Athener getan haben und folglich noch nicht von Sitalkes zum Verbündeten der Athener gemacht worden sein kann, wenn nicht dieses Bündnis schon wieder hinfällig geworden sein sollte wegen der Rückkehr der Peisistratiden. Möglicherweise wird das Bündnis der Athener mit Perdikkas aber auch erst später abgeschlossen, nachdem Peisistratos tot war.

Dadurch, dass Perdikkas im Winter (konv.) 424/423 v.Chr., also im achten Kriegswinter analog 700/701 ndFl, gar nicht hier sein könnte, wird die Wahrscheinlichkeit zur Sicherheit, dass diese Vorgänge noch an den Anfang des Peloponnesischen Krieges gehören. Welche Folgen diese Feststellung auf das Vertrauen hat, das dem "Polemos" als einem Geschichtswerk entgegenzubringen ist, kann kaum ermessen werden.

In Thuk. IV, 108 heißt es dann, dass es dadurch, dass die Athener jüngst in Böotien einen schweren Schlag erlitten hatten, die übrigen Städte in Thrakien auf die verführerischen Worte des Brasidas gern gehört hätten und zum Abfall von Athen bereit gewesen wären, ohne sich der damit für sie verbundenen Gefahr bewusst zu sein. Mit "jüngst" ist die Niederlage der Athener bei Delion gemeint, die jedoch tatsächlich in das Jahr (konv.) 424/3 v.Chr. analog 700 ndFl gehört. Trotz dieser Eigenmächtigkeit des Redakteurs kann daran festgehalten werden, dass diese Begebenheit um Brasidas und Amphipolis in das erste Kriegsjahr gehört, und zwar sowohl in das des "langen" wie des "kurzen" Krieges; denn die Aktivitäten des Brasidas ziehen sich bis in das Jahr 693 ndFl weit hinein und noch darüber hinaus.

Während es den Athenern trotz des Winters gelang, Besatzungen in die bedrohten Städte zu legen, ließen die Spartaner Brasidas im Stich. Als Begründung dafür führt der "Polemos"-Autor einerseits den Neid der führenden Männer an, andererseits aber auch etwas, das ebenfalls erst in das achte Kriegsjahr gehört: Die Spartaner wollten lieber die Gefangenen von der Insel zurückhaben und den Krieg beendet sehen.

Von überzeugender Logik ist dies keineswegs: was hat das eine, nämlich Amphipolis, mit dem anderen, mit Sphakteria zu tun? Dies ist der Name der Insel nahe dem messenischen Pylos, wo konventionell seit dem Vorjahr, das heißt seit 425 v.Chr., ein Trupp Spartaner gefangen sitzt, die im Zusammenhang mit dem Messenischen Krieg kapituliert hatten. Dieser Vorfall gehört tatsächlich in dieses Jahr (konv.) 425 v.Chr., in dem auch das Eingreifen des Demosthenes in diesen Krieg vermeldet wird. Mit Brasisas und Amphipolis hatte allerdings die Sache mit den Gefangenen auf Sphakteria nichts zu tun.

Begonnen hatte der 3. Messenische Krieg bekanntlich schon im ersten Kriegsjahr gleichzeitig mit dem Erdbeben und der Sonnenfinsternis, die auch für das (konv.) Jahr 424 v.Chr. gemeldet wird. Da dieser Krieg aber bis mindestens in sein zehntes Jahr dauerte, also bis (692 + 9 = ) 701 ndFl, so können die mit Demosthenes verbundenen messenischen Ereignisse durchaus erst im Jahre (konv.) 425 v.Chr. begonnen haben, das heißt im Jahre 699 ndFl. Wenig später (und keinesfalls hundert Jahre später) hat Demosthenes, der Heros der attischen Demokratie (Bengtson, Seite 341), sein Leben durch Selbstmord geendet (konv. Winter 322 v.Chr.). Als nämlich nach einem Sieg des Antipatros = Artaphernes des Älteren bei Krannon in Thessalien über die Athener die Makedonenfreunde, an ihrer Spitze Phokion-Hipparch und Demades-Hippias, wieder die Oberhand in Athen gewannen, da gab sich Demosthenes im Tempel des Poseidon auf der Insel Kalaureia selbst den Tod. Das gehört ins Jahr 704 ndFl.

Dem "Polemos" zufolge endete er jedoch in Sizilien, und zwar angeblich im Sommer des Jahres (konv.) 413 v.Chr., das dem Jahr 711 ndFl entsprechen würde. Hier wurde er nach der katastrophalen Niederlage der Athener gemeinsam mit Nikias von den mit Sparta verbündeten Syrakusanern hingerichtet. Auf dieses offensichtliche Dilemma des doppelten Todes des Demosthenes werde ich zu gegebener Zeit zurückkommen.

(Thuk. IV, 109) In demselben Winter eroberten die Megarer ihre von den Athenern besetzten langen Mauern zurück und trugen sie bis auf den Grund ab.

Eine Erklärung für diese merkwürdige Tat wird nicht abgegeben. In welches Jahr sie gehört, interessiert zunächst nicht. Thuk. IV, 109 fährt fort:

Brasidas aber rückte nach der Einnahme von Amphipolis mit den Bundesgenossen gegen die so genannte Akte. Es ist das ein Landstrich diesseits von dem Kanal des Perserkönigs, der bei dem hohen Athosgebirge am ägäischen Meere endigt.

Ohne Probleme mit der Chronologie zu haben, kommentiert der Übersetzer: Nach dem Schiffbruch der im Jahre 492 v.Chr. gegen Griechenland ausgesandten persischen Flotte am Athos ließ Xerxes, um eine Wiederholung dieser Katastrophe zu vermeiden, 483-481 an der Stelle, wo die Halbinsel ansetzt, einen Kanal ziehen (s. Herodot VII 22-24), von dem noch heute Spuren erkennbar sind.

Gemeint ist der Zug des Mardonios nach Thrakien im Jahre 716 ndFl, der ebenso wie der Bau des Kanals unter Xerxes in eine spätere Zeit gehört. Die hier gemachte Angabe ist vermutlich von dem "Polemos"-Redakteur nachträglich eingearbeitet worden, da sie Einzelheiten aus der Regierungszeit des Xerxes enthält, der erst 726 ndFl auf den Thron von Persien kommen wird. Da der Kanal schon zu Beginn des Perserkrieges fertig gewesen sein muss, so kann dessen Bau auch schon unter Darius begonnen und von Artaxerxes Mnemon oder Xerxes weitergeführt und von letzterem dann beendet worden sein. Eine Beteiligung der Makedonen an diesem Bau dürfte gleichfalls zu vermuten sein. Möglicherweise stammt dieser Hinweis auf den Kanal vom "Polemos"-Autor.

Interessant sind die folgenden Angaben (Thuk. IV, 109), wenn sie auch nicht zur Erhellung der derzeit ablaufenden Geschehnisse beitragen: In Akte liegen mehrere kleine Orte mit einer zweisprachigen, nichtgriechischen Bevölkerung. Hauptsächlich handelt es sich um Pelasger, also Angehörige einer karischen Urbevölkerung, genauer gesagt thyrsenische Pelasger, die vorher auch in Lemnos und Athen zu Hause waren, ferner um Bisalter, Krestonier und Edoner. Pelasger sind die karische Urbevölkerung (Megalithiker, Kyklopen), die als "Steinmänner" (Lapithen) auch im boiotisch-minyischen Orchomenos wohnten. Wenn sich nun diese Städte dem Brasidas anschlossen, dann war das natürlich zu einer Zeit der Fall, als es den Kanal noch nicht gab.

Das, was nun folgt, gehört meines Erachtens schon in das folgende Frühjahr 693 ndFl, wenn auch der Hinweis auf das Ende dieses Jahres erst danach erfolgt. Es handelt sich um die Stadt Torrone auf der Chalkidike, wo die Athener seit einigen Wochen Poteidaia belagern, und um Lekythos, wo ein Waffenstillstand geschlossen wird. Auf diese Begebenheiten werde ich daher erst im folgenden Kapitel näher eingehen.

Den Rest des Winters nutzte Brasidas, um in den eroberten Plätzen Ordnung zu schaffen. ...Und als der Winter vorüber war, hatte das achte Jahr des Krieges (konv. 424/3 v.Chr.) sein Ende erreicht.

Mit dieser Angabe (Thuk. IV, 116) gehen wir nicht konform; es ist der Winter 692/693 ndFl gemeint, dem auch die Jahre (konv.) 432/431 v.Chr. entsprechen. Die Ereignisse um Brasidas gehören überwiegend in die ersten Jahre des Krieges: 692 und 693 ndFl. Wenn der Waffenstillstand nach der Einnahme von Lekythos, also im Frühjahr (konv.) 423 v.Chr. analog 431 v.Chr. entsprechend 693 ndFl abgeschlossen wurde, dann gehört diese Einnahme erst ins Jahr 693 ndFl.

Erst in Thuk. IV, 89 geht es weiter mit:

Im folgenden Winter (424/423 v.Chr.), gleich zu Anfang, sollte von den athenischen Feldherren Hippokrates und Demosthenes der Schlag gegen Böotien geführt werden. Demosthenes sollte mit der Flotte gegen Siphä fahren, Hippokrates Delion angreifen. ...

Das schließt an den Absatz 77 an: Demosthenes bricht nach dem Megara-Unternehmen nach Naupaktos und Siphä auf. Bis dahin hatte ich weiter oben schon berichtet. Der Unterschied von Absatz 89 zu Absatz 77 ist der, dass es jetzt Winter ist - oder etwa nicht? Die Peisistratiden sind im Winter des Jahres 692 ndFl, um das es sich ja in Wirklichkeit handelt, wieder in Athen, und wir treffen Kimon und Thukydides zu dieser Zeit als Feldherren der Athener an, die die Nachfolger der Alkmeoniden geworden sind. Deshalb belassen wir es bei der Angabe in Absatz 76, wonach Demosthenes im Sommer in Naupaktos einlief, also noch vor der Rückkehr der Peisistratiden nach Athen. Der Winter gehört zu 424/423 v.Chr. und zu Delion, worauf ich noch zurückkommen werde.

(Thuk. IV, 89) ... Aber man verfehlte den Tag, an dem die beiden Unternehmungen vor sich gehn sollten, und Demosthenes kam zu früh vor Siphä an. Er konnte mit den Akarnanen, die er bei sich auf den Schiffen hatte, und mit den Bundesgenossen dort im Lande nichts ausrichten und musste wieder abziehen; denn der Anschlag war durch Nikomachos, einen Phoker aus Phanoteus, der es den Lakedämoniern sagte und diese wieder den Böotern, verraten worden. Alle Böoter waren herbeigeströmt - Hippokrates weilte ja noch nicht plündernd im Lande - und hatten Siphä und Chäronea rechtzeitig besetzt. Als die Anstifter den Fehler inne wurden, hielten sie sich ruhig in ihren Städten.

Und wieder einmal war es nichts mit der Demokratie geworden. Noch ist es bis dahin ein weiter Weg, und außer in Athen wird es sie wohl nirgendwo sonst in Griechenland geben. Aber aufgeben wollten sie nicht:

Hippokrates rückte dennoch mit dem gesamten Aufgebot der Athener (Bürger, Metöken und sonstige Fremde, die sich in der Stadt aufhielten) nach Delion aus, nachdem die Böoter schon von Siphä heimgekehrt waren. Er stellte sein Heer auf und begann Delion, das Apollonheiligtum, zu befestigen, wie es vorgesehen war, um von hier aus die Demokratie nach Böotien zu bringen. Alles das, was jetzt im Zusammenhang mit Delion geschildert wird, gehört tatsächlich ins Jahr (konv.) 424/423 v.Chr. analog 700/701 ndFl. Deshalb gehe ich darauf hier noch nicht ein.

Der Krieg wird von Hippokrates allein geführt; von seinem Bruder Demosthenes (= Kleisthenes) ist zunächst keine Rede mehr. Es hat den Anschein, als sei mit Hippokrates nur noch derjenige Teil gemeint, der die Schlacht bei Oropia betrifft, die somit noch ins erste Kriegsjahr gehört. In Absatz 99 wird umständlich darauf hingewiesen, dass diese Schlacht auf athenischem Gebiet stattgefunden hat und ganz offensichtlich mit der nachfolgend beschriebenen Schlacht bei Delion (Thuk. IV, 100f.) nichts zu tun hat, die ins achte/neunte Kriegsjahr gehört, in welches auch die Namen Pagondas (= Epaminondas) und Arianthides und der Tod des Sitalkes gehören.

Demosthenes taucht aber in Absatz 101 wieder auf, und zwar zwischen dem Ende Delions und dem Tod des Sitalkes. Auch danach in Absatz 102 geht es wieder im ersten Kriegsjahr weiter, und zwar mit dem Brasidas-Zug gegen Amphipolis. Hier ist die Vermischung zweier Kriegsjahre überdeutlich.

Demosthenes, der mit dem Anschlag auf Siphä kein Glück gehabt hatte, unternahm einen Landungsversuch an der Küste von Sikyon, anstatt seinem Bruder bei Delion zu helfen - aber Delion betrifft ja erst das Jahr 700/701 ndFl. Auch hier wird deutlich, dass es sich um zwei verschiedene Schlachten handelte. Sonst wäre es ja unbegreiflich, wenn Demosthenes nicht Hippokrates geholfen hätte und nach dem Verlust der Schlacht bei Delion nichts Besseres zu tun gehabt hätte, als nun sein Glück bei Sekyon zu versuchen. Das ist eine Sache aus dem Jahre 692 ndFl. Aber auch bei Sekyon hatten die Athener kein Glück. Das ganze Unternehmen mutet seitens der Athener stümperhaft an.

(Thuk. IV, 116): ... Und als der Winter vorüber war, hatte das achte Jahr des Krieges sein Ende erreicht.

Da sind wir anderer Ansicht: Es war überwiegend erst das erste Jahr! Der Zug des Brasidas gegen Amphipolis, der weiter oben besprochen wurde, fand im Winter des Jahres 692/693 bis ins Jahr 693 ndFl hinein statt, bis ins erste Jahr des "kurzen" Krieges (konv. 431 v.Chr.).

Und woran schließt Thuk. IV, 117 an? An das erste Jahr - und wenn ja, an welches? - oder an das achte? Es wird von einem Waffenstillstand gesprochen, der meines Erachtens zu einem Teil in das Jahr 693 ndFl gehört; deshalb werde ich mich erst im nachfolgenden Kapitel damit beschäftigen.

Sobald die Peisistratiden gegen Ende dieses Jahres wieder in Athen waren, wandten sich die athenischen Sympathien eindeutig Philipp zu, während sich Perdikkas mit dem Spartaner Brasidas zusammentat. Wenn sich Perdikkas, der Sohn des Alexandros "Kyknos" und der Leda, sich am Feldzug der Athener unter Phormion gegen die Chalkidier beteiligte, dann gehört dieser Zug meines Erachtens ebenfalls in die Zeit vor der Rückkehr der Peisistratiden, da es sich bei dieser Expedition des Phormion offensichtlich um dieselbe handelt, die im Jahre 692 ndFl von den Athenern auf den Weg gebracht worden war: Aus Athen gelangte weitere Unterstützung unter Phormion, dem Sohn des Asopios, an, und die Athener begannen sofort damit, Poteidaia zu belagern. - So lautete der Text weiter oben.

692 ndFl ist das eigentliche Jahr des Beginns des Peloponnesischen Krieges, der nur 27 1/2 Jahre dauerte, nämlich vom Herbst des Jahres 692 ndFl bis zum Frühjahr 720 ndFl. Auf den ersten Blick ergibt das allerdings (720 minus 692 =) 28 Jahre.

In das Jahr 692 ndFl gehört auch der Beschluss des Perserkrieges auf der so genannten "Kriegssitzung" des Korinthischen Kongresses (konv. Frühjahr 337 v.Chr.). Wurden hier schon im Altertum zwei Kriege vermischt bzw. miteinander verwechselt? Die Ähnlichkeit hinsichtlich der Zweizügigkeit dieser Ereignisse ist doch verblüffend!

Wie ich im Kapitel Philipp I in neuer Sicht schon zitierte (Bengtson, Seite 294), soll Demosthenes (344/343 v.Chr.) versucht haben, mit den Persern Kontakt aufzunehmen, und zwar in der falschen Sicht gegen Makedonien: Eine Gesandtschaft des Artaxerxes III kommt dieserhalb nach Athen, um mit Demosthenes zu verhandeln - angeblich!

Das ist doch unglaubhaft, wenn Demosthenes etwas von den Persern gewollt hätte. Und wenn dann noch die Athener den Persern die kalte Schulter zeigen, so dass Demosthenes wie ein begossener Pudel dasteht und die hilfswilligen Perser auch noch aufs Äußerste brüskiert werden, dann liegt doch der Perserkrieg jetzt schon in der Luft; aber so war es ja gar nicht. Was konventionell überhaupt nicht vorstellbar ist, wird in der berichtigten Sicht klar und deutlich:

Die Perser sind - vermutlich im Auftrage des Kyros oder dessen rechtmäßigen Thronfolgers Gautama-Smerdis-Bardiya statt des Artaxerxes III - gekommen, um die Athener um Beistand gegen den Aufrührer Bessos-Kambyses zu bitten, der mit Spitamenes-Patizeithes = Ismenias-Menelaos, seinem Spießgesellen, die Regierung nach der mutmaßlichen Ermordung seines Vaters Kyros d.Ält. an sich gerissen hat. Bei den Athenern hatte die Gesandtschaft kein Glück; aber sie trat noch nicht die Heimreise an, wie Bengtson meint, sondern sie versuchten ihr Glück bei den Makedonen, und zwar bei Perdikkas. Der schickte seinen Sohn Alexander nach Persien.

Bei dem Thessaler Philipp-Pelopidas trafen sie vermutlich ebenfalls nicht auf taube Ohren; denn dessen Kampfgenosse Parmenion-Epaminondas eröffnete gemeinsam mit Attalos im Frühjahr (konv. 336 v.Chr. analog) 693 ndFl auf kleinasiatischem Boden den Perserkrieg. Das entspricht der Eröffnung des Peloponnesischen Krieges im folgenden Jahr.

Der Zug des Alexander-Archelaos I, des Großen Nr. 1, durch Persien, Afghanistan, Pakistan bis an die Grenze Indiens wird in den folgenden Kapiteln Jahr für Jahr erwähnt; eine genaue Beschreibung der Taten Alexanders des Großen, und zwar beider, erfolgt in einem gesonderten Kapitel.

Letzter Stand: 13. Februar 2014

 


 

1 Hermann Bengtson, Griechische Geschichte, Verlag C.H.Beck, München
2 Die Endungen -as bzw. -os werden im "Polemos" und in den Hellenika unterschiedlich angewendet.
Die Geschichte des Altertums in neuer Sicht Band 1 bis 3 der Geschichte des Altertums in neuer Sicht
gibt es inzwischen auch gedruckt.

Sie können sie hier beim Lulu-Marktplatz bestellen:
 Band 1
 Band 2
 Band 3 (einschließlich 6. Buch)

Oder bei Amazon:
 Band 1
 Band 2
 Band 3 (einschließlich 6. Buch)



Zurück zum Inhaltsverzeichnis   Weiter