Zehntes Buch: Darius und Xerxes

3. Kapitel:

Die Xerxesnacht
oder die Entstehung des 365,2422-Tage-Jahres

Die von mir so bezeichnete Xerxesnacht ist das Ereignis, das Herodot (VII, 37) wie folgt beschreibt:

... da wollte sich das Heer (Eig.Anm.: die Perser und ihre Verbündeten unter Xerxes, dem persischen Großkönig), das in Sardes1 überwintert hatte, mit Beginn des Frühlings in Richtung Abydos2 in Bewegung setzen. Gerade als es aufbrach, wich aber die Sonne vom Himmel und wurde unsichtbar, obwohl es ein wolkenloser, ganz heiterer Tag war. Der Tag wandelte sich in Nacht.

Dies ist die Übersetzung von A. Horneffer; treffender im Ausdruck ist meines Erachtens in diesem Falle aber die von Walther Sontheimer:

... aber wie es sich in Bewegung gesetzt hatte, verließ die Sonne am Himmel ihren Platz und verschwand, ohne dass der Himmel bewölkt war. Vielmehr herrschte ganz heiteres Wetter.

Anstatt Tag wurde es Nacht.

Beide Übersetzer sind sich einig, wenn sie dieses Ereignis kommentieren: Die hier berichtete Sonnenfinsternis fiel auf den 17. Febr. 478 v.Chr. und ist offenbar von Herodot bzw. seiner Quelle irrtümlich auf den zwei Jahre früher liegenden Zug des Xerxes verlegt worden. Wie ich an einer anderen Stelle schon sagte, handelte es sich hier keinesfalls um eine Sonnenfinsternis, die selbst in konventioneller Sicht nicht in deren Datierung passt, und die auch mit anderen Worten beschrieben worden wäre: Bei einer Sonnenfinsternis verlässt die Sonne nicht ihren Platz am Himmel!

Dagegen könnte eingewendet werden, dass sich Herodot einer ähnlichen Ausdrucksweise an einer anderen Stelle bediente, und zwar bei der Beschreibung der Sonnenfinsternis während einer Halys-Schlacht (I, 74):

... Als sie den Krieg auch im sechsten Jahre weiter fortsetzten, begab es sich während einer Schlacht, dass der Tag sich plötzlich in Nacht verwandelte. Diese Vertauschung von Tag und Nacht hatte Thales aus Milet den Ionern vorausgesagt und hatte genau das Jahr angegeben, in dem diese Verwandlung dann auch stattfand. Als die Lyder und Meder sahen, dass es nicht mehr Tag, sondern plötzlich Nacht war, ließen sie ab vom Kampfe und eilten, miteinander Frieden zu schließen.

Es folgen die Namen von friedenvermittelnden Zeitgenossen der Halys-Schlacht, wodurch die "Vertauschung von Tag und Nacht" eindeutig in deren Zeit verlegt wird, die einige Jahre nach dem scheinbaren Sonnenstillstand lag. Der entscheidende Unterschied zu der Formulierung bezüglich der Xerxes-Nacht besteht im Falle der Halys-Schlacht darin, dass nicht von einem Verschwinden der Sonne die Rede ist, sondern nur von einer allgemeinen Verdunkelung, was für eine Sonnenfinsternis typisch ist. In der Tat handelt es sich bei der Verfinsterung während der Halys-Schlacht um eine Sonnenfinsternis.

Thales von Milet, einer der Sieben Weisen des Altertums, war vermutlich der erste, der nach dem scheinbaren Sonnenstillstand des Jahres 676 ndFl eine Sonnenfinsternis (möglicherweise sogar auf die Stunde genau) nach den neuen astronomischen Daten für den Nahen Osten vorausberechnet hatte. Sie gehört vermutlich in das Jahr 678 ndFl (= 202 v.Chr.), worauf ich mich aber wegen der vielen Verwechslungen, die Herodot in diesem Kapitel unterlaufen sind, nicht festlegen möchte. Sie kann auch im Jahre 687 ndFl stattgefunden haben, als Kroisos, der König von Lydien, den Halys überschritt, um ein großes Reich zu zerstören: sein eigenes.

Konventionell wird als Datum für diese Verfinsterung und die hier gemeinte Halys-Schlacht u.a. der 28. Mai 585 v.Chr. angegeben. Es sind aber auch noch mindestens drei andere Daten im Gespräch. Herodots Beschreibung enthält noch ältere "Halys-Schlachten", die er weitgehend zusammengefasst hat. Auf dieses Thema kann hier jedoch nicht nochmals eingegangen werden. Es wurde hierüber schon in früheren Kapiteln abgehandelt.

Zu der Xerxesnacht gehört auch Herodot IX, 10: Kleombrotos opfert an der Isthmischen Mauer, als eine Sonnenfinsternis eintritt. Diese gehört ebenfalls in den Perserkrieg und wird konventionell auf den 2. Oktober 480 v.Chr. datiert. Wir erinnern uns, dass die beim Aufbruch des Xerxes angeblich eingetretene Sonnenfinsternis auf den 17. Februar 478 v.Chr. datiert wurde, weshalb diese Angabe Herodots als eine "Verlegung" angesehen wird: ... von Herodot bzw. seiner Quelle irrtümlich auf den zwei Jahre früher liegenden Zug des Xerxes verlegt ... Wegen der vielen Fehler in der Chronologie der Altertumsgeschichte, auf die ich an vielen Stellen schon eingegangen bin und zumindest hingewiesen habe, kann von einer korrekten Berechnung nicht ausgegangen werden, zumal die astronomischen Daten vor der Xerxesnacht heute gar nicht mehr so genau bekannt sind, dass mit ihnen eine exakte Berechnung einer Finsternis überhaupt noch möglich sein könnte.

Es handelt sich natürlich bei der Opferung des Kleombrotos an der Isthmischen Mauer um dasselbe Phänomen, das in Kleinasien bei dem gleichzeitigen Aufbruch des Xerxes beobachtet wurde. Dabei handelte es sich nicht um eine Verfinsterung der Sonne, sondern um deren vollständiges Verschwinden,  nachdem sie gerade aufgegangen war: Sie fiel wieder hinter den Horizont zurück. Dieses Phänomen ist in dem Kapitel über den scheinbaren Sonnenstillstand (im Jahre 676 ndFl) bereits eingehend beschrieben worden.  Es handelte sich dabei um eine Veränderung der Erdbahn, einhergehend mit einer Überkompensation der Erdrotation. Was die Bahnveränderung des Jahres 728 ndFl anbelangt, so sind hierzu ebenfalls schon Einzelheiten in einem früheren Kapitel erörtert worden, die hier rückblickend nochmals kurz zur Sprache gebracht werden sollen:

Die Erdbahn verkürzte sich wieder, und es entstand unser heutiges 365,2422-Tage-Jahr.

Herodot, der kurz nach dem Perserkrieg (728/729 ndFl) den Hauptteil seiner Geschichtsbücher bereits abgeschlossen hatte, wie aus der darin enthaltenen kommentarlosen Erwähnung des 375Tage-Jahres hervorgeht, stattete Ägypten danach noch einen Besuch ab. Er schreibt (II, 4):

Die Ägypter waren die ersten, die die Länge des Jahres feststellten und es in seine zwölf Zeiten einteilten. Die Sterne, sagten sie, hätten sie darauf gebracht.

Dies ist doch nur so zu verstehen, dass die Ägypter die ersten waren, die nach der Xerxesnacht die Länge des neuentstandenen 365,2422-Tage-Jahres herausbekommen hatten. Es verwundert nicht, dass sie das mit Hilfe der Sterne herausgefunden hatten: wie wohl sonst? Der Übersetzer der obigen Stelle konnte sich darauf keinen Vers machen, sowenig wie alle übrigen Kommentatoren auch, da für sie, obwohl Herodot überdeutlich das 375Tage-Jahr erwähnt, nur Jahre mit 365,2422 Tagen existieren. Herodot fährt fort:

Ihre Berechnungsweise ist klüger als die der Hellenen, scheint mir, weil die Hellenen in jedem dritten Jahr einen Schaltmonat einschieben, um mit dem natürlichen Jahr in Übereinstimmung zu bleiben, während die Ägypter zwölf Monate zu je dreißig Tagen zählen und in jedem Jahr noch fünf Tage hinzutun.

Offenbar erlebte Herodot mit, wie die verschiedenen Völker mit dem neuen Kalender fertig zu werden versuchten. Wichtig erscheint mir besonders der Hinweis auf ein jetzt vorliegendes Jahr zu (12 mal 30 plus 5 =) 365 Tagen zu sein, während Herodot noch im Zusammenhang mit Kroisos von einem Jahr zu 360 Tagen und 15 Schalttagen gesprochen hatte.

Der Schaltmonat der Hellenen, der in jedem dritten Jahr eingeschoben worden sei, hat nichts zu tun mit dem 49. Monat des Olympiaden-Zyklus' oder dem jüdischen Ve-Adar. In Anlehnung an diesen alten Schaltmonat und an den 25. Schaltmonat im Doppel-Epagomenenjahr (25 mal 30 = 750 oder zweimal 375 Tage), dessen Tage nun abgelaufen waren, versuchten die Griechen noch vor dem Experiment mit der Achtjahres-Olympiade offenbar einen Dreijahreszyklus mit 37 Monaten nach folgender Rechnung:

3 x 365,25 Tage = 1095,75 Tage;
                  1095,75 Tage : 29,5 Tage = 37,1441 Monate.

Das sind die 3 mal 12 + ein Schaltmonat = 37 Monate, die Herodot meint. Nicht zu Unrecht rügte er diese Methode, da sie zu einem unbefriedigenden Ergebnis führte. Aus der Erwähnung des 365Tage-Jahres lässt sich darauf schließen, dass der (zweite?) Ägyptenbesuch Herodots nach 728 ndFl stattgefunden haben muss, nachdem er die meisten Kapitel schon geschrieben hatte, und zwar zur Zeit des 375-Tage-Jahres.

Im 6. Kapitel des V. Buches (Band 3) wurde ausführlich über die Wanderungen der Breitenkreise und des Wendekreises abgehandelt. Hier sei daher auf die Veränderungen, die durch die Erdbahn- und Erdpolverlagerungen des Jahres 728 ndFl verursacht wurden, nur noch kurz eingegangen:

Die mit der Xerxesnacht einhergehende Verlagerung der Erdachse brachte den Himmelspol zunächst ans Ende des Sternbildes Kleiner Wagen, von wo aus er sich bis heute an die Deichselspitze vorgearbeitet hat. An seiner vorigen Position, auf der Brust des Nilpferdes, ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Polarstern und gamma Draconis (Ettanin, der hellste und Hauptstern im Bild Drache), liegt seit 728 ndFl der Ekliptikpol.

Die Drehung der Erdachse in Richtung auf den Kleinen Bären macht mehr aus als die Veränderung ihres Neigungswinkels zur Ekliptikachse von 24° auf 23° 51' (für den Sonnenmittelpunkt) und 24° 06'(für den Sonnenrand). Der neue Wert 23° 51' hat sich bis heute infolge der nur noch sehr langsamen Aufrichtungsbewegung der Erdachse auf 23° 27' verringert. Insgesamt machte die Verlagerung der Wendekreise in Richtung auf den Äquator seit Typhon 4 (624 ndFl entsprechend 256 v.Chr.) bis 728 ndFl 2° und danach weitere 33' aus, so dass bis heute etwa 2,5° zusammenkommen.

Der von Stecchini für den Wendekreis angegebene Wert von 24° wurde schon wenige Jahre vor 728 ndFl bzw. 152 v.Chr. erreicht. Folglich war der Wendekreis bis zum Jahre 728 ndFl noch weiter nach Süden gewandert, nachdem er 676 ndFl durch die "Maus" von einem unbekannten Wert nahe Kom Ombo aus in Bewegung versetzt worden war.

Das eigentliche Problem nach der Xerxesnacht des Jahres 728 ndFl war der Schalttag, worüber im Kapitel Kalender und Chronologie schon ausführlich abgehandelt worden ist. Mehrere Stufen der Kalenderreform führten schließlich zu dem heutigen bürgerlichen Kalender, der auf der Basis des tropischen Jahres von 365,2422 Tagen noch für mehr als tausend Jahre gelten kann, wenn nicht in der Zwischenzeit ein neuer Vorfall in Erdnähe zu neuen Kalenderüberlegungen zwingen sollte.


1 Hauptstadt von Lydien in Kleinasien mit Sitz eines Satrapen
2 Hafenstadt auf kleinasiatischem Boden an der engsten Stelle der Dardanellen

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